Mittagsstunde - Roman

von: Dörte Hansen

Penguin Verlag, 2018

ISBN: 9783641167837 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Mittagsstunde - Roman


 

1
Ich schau den weißen Wolken nach

Der erste Sommer ohne Störche war ein Zeichen, und als im Herbst die Stichlinge mit weißen Bäuchen in der Mergelkuhle trieben, war auch das ein Zeichen. »De Welt geiht ünner«, sagte Marret Feddersen und sah die Zeichen überall.

Die alten Ulmen starben einen Sommer später, am Wester­ende, wo sie seit hundert Jahren Ast in Ast gestanden hatten. Ihre Blätter wurden plötzlich gelb, die Kronen kahl, im Juni schon. Sie standen noch ein Jahr wie abgedankte Könige. Dann kam Karl Martensen mit seinen Leuten, und ihre Motorsägen kreischten lange, bis sie die Ulmenstämme auf dem Wagen hatten. Hartes Holz, das ewig trocknen musste, bis man es hobeln oder fräsen konnte. Marret kam, sie holte sich ein Stück der grauen Borke ab und eine Handvoll Ulmenfrüchte, dann ging sie wieder durch das Dorf, von Tür zu Tür, wie sie es immer tat, wenn sie ein Zeichen sah: »De Welt geiht ünner.«

Die Welt ging unter, als auf der neuen Straße der jüngste Sohn von Hamkes überfahren wurde, kaum dass die weißen Striche in der Mitte trocken waren. Und als die Jäger bei der Treibjagd im November den ganzen Tag über die leeren Felder zogen und nicht einen Hasen fanden, den sie hätten schießen können, ging sie wieder unter. Und dann noch einmal ein paar Sommer später, als Paule Bahnsens Ältester mit einem Dominator 76, dem größten Mähdrescher, der je im Dorf ­gesehen worden war, ein Rehkitz überfuhr. Es hatte sich im hohen Korn versteckt, weil junge Rehe nicht vor Feinden fliehen. Sie machen sich ganz klein und bleiben liegen, bis die Gefahr vorüber ist. Oder das Schneidwerk eines Dominator 76 sie erwischt, 3,60 Meter breit und nagelneu. Knochen, Blut und Fell im Messerbalken. Ein junger Bauer, der nie wieder dreschen will.

Man konnte Marret Feddersen von Weitem hören, wenn sie in ihren weißen Klapperlatschen angelaufen kam. Sie trug die alten Dinger immer. Schiefgetretene Holzsandalen, auch bei Schnee und Eis. Wozu noch Schuhe kaufen.

Die Leute seufzten, wenn sie das Klappern auf der Straße hörten. Dor kummt de Ünnergang al wedder. Man hatte Bohnen einzuwecken, den Motorblock des Schleppers auszubauen, man stand gerade am Sortierband mit den Frühkartoffeln oder hängte die gewaschenen Gardinen auf – und dann kam Marret angeklappert. Es passte manchmal schlecht.

Sie brauchte nicht zu klopfen, natürlich kam sie durch die Hintertür, denn an die Haustür gingen nur die Fremden und Hausierer. Wenn niemand da war, setzte sie sich an den Küchentisch, malte summend ein paar Blumen oder Tiere auf Notizblöcke und Einkaufszettel, kritzelte mit Kugelschreibern Schafe, Schweine, Kühe auf die Rückseite des Bauernblatts und Rosenranken an den Rand der Tageszeitung. Manchmal trank sie ein Glas Wasser oder nahm sich einen Apfel. Wenn dann noch immer keiner kam, versuchte sie es in der nächsten Küche. Sie ging auch in die Ställe, in die Werkstätten, stand in den Klapperlatschen plötzlich an der Hobelbank, am Amboss, in der Bäckerei am Ofen. Sie erschreckte Kalli Jensen einmal fast zu Tode an der ­Melkmaschine, der Kompressor war so laut, er hatte sie nicht kommen hören und sackte halb zu Boden, als ihm Marret plötzlich auf die Schulter tippte. Er japste, lehnte sich schwer atmend an die Stallwand und wollte dann kein Wort mehr hören von irgendwelchen Untergängen.

Die toten Fische, Bäume, Kinder, Rehe, der Sommer ohne Störche und die Felder ohne Hasen, sie waren Vorzeichen der großen Katastrophe, die Marret schriftlich hatte, schwarz auf weiß in ihrem Blatt. DIE ZEIT LÄUFT AB! Ein altes Heft im DIN-A5-Format, mit Tesafilm an vielen Stellen schon geklebt. Sie hatte es auf einem Tisch gefunden im Gasthof Feddersen, wo sie den Boden wischte jeden Abend, es musste jemand dort vergessen haben. Das Titelbild sah aus, als hätte sich ein Jahrmarktsmaler an der Apokalypse versucht: berstende Häuser vor loderndem Himmel und Menschen, die mit aufgerissenen Mündern um ihr Leben rannten. Der Untergang in Airbrushtechnik. ERWACHET! Die Wahrheit stand in diesem Heft, sie trug es immer bei sich, wenn sie ihre Runde machte.

Sie kam gewissenhaft und zuverlässig wie die Post oder der Mappenmann, der jeden Donnerstag von Tür zu Tür ging und die Lesezirkelhefte tauschte.

Man war gewöhnt an Marret Ünnergang wie an die Kinder zu Silvester, die jedes Jahr als Rummelpott verkleidet an die Türen kamen, auf Trommeln oder Töpfe schlugen und laut ihr Lied über ein Schiff aus Holland sangen. Dor kummt een Schipp ut Holland, dat het so’n scheeve Wind. Kein Mensch verstand das Lied. Warum das Schiff aus Holland kam und was ein schiefer Wind war, wusste niemand. Es spielte keine Rolle. Man hörte zu, man nickte, lachte, gab den Sängern Süßigkeiten und ­versuchte unter den Perücken und den Masken die Nachbarskinder zu erraten. Bekam ein frohes neues Jahr gewünscht und ließ sie weiterziehen. Marrets Untergangsgeschichten waren wie der Wind aus Holland – schief und seltsam, mehr auch nicht. Man nickte, hörte zu und ließ sie weiterziehen.

Selbst Pastor Ahlers nahm es hin, dass das Orakel in den weißen Klapperlatschen von Zeit zu Zeit durch die Gemeinde zog. Er fand es nicht ganz glücklich, dass Marret ihre Prophezeiungen auch noch mit einer Werbeschrift der Zeugen Jehovas untermauern musste, aber nach vielen Jahren Dienst in der nordfriesischen Provinz war Ahlers Schlimmeres gewohnt. Auf solche Kleinigkeiten kam es gar nicht an, die Leute glaubten sowieso nichts. Er hatte es weiß Gott versucht, die Seelen zu erquicken und sie aus dunklen Tälern zu befreien, aber der Hirtenjob war hart hier draußen. Seine Sorte Schaf schien gegen jeden Glauben imprägniert zu sein. Wind- und wetterdichtes Fell, nichts Frommes drang da durch. Alles Göttliche lief ab an ihrem Fell wie Wasser am Gefieder einer Gans. Sie glaubten ihm kein Wort. Aber an Marrets Untergänge glaubten sie genauso wenig. Verrückte und Pastoren, einfach klappern lassen.

Nur Carsten Leidig, der in der alten Mühle hauste, hatte Angst vor Marret Ünnergang. Er fluchte schon und fuchtelte mit seinem Rübenmesser, wenn er sie nur von Weitem sah, als wäre das, was Marret hatte, ansteckend. Oder das, was ihr fehlte.

Sie war wohl immer noch normaler als der kahle Fremde, der jedes Jahr im März oder April die Dorfstraße entlanggehumpelt kam, in einem kurzen, himmelblauen Rock. Er hatte nur ein Bein, das andere war aus Holz. Er schliff die Messer und die Scheren, man konnte Bürsten bei ihm kaufen, Schnürsenkel und Schuhcreme, und die Kinder durften nicht so gucken, wenn er kam. Aber Weggucken war ganz unmöglich, wenn ein Mann im Rock mit weißen Feinstrumpfhosen an die Türen klopfte und unbedingt gesehen werden wollte.

Der kahle Scherenschleifer ging nicht in die Küchen, er musste an der Haustür stehenbleiben. Es lag nicht an den ­Feinstrumpfhosen und dem himmelblauen Rock, es lag daran, dass er ein Fremder war. Man nickte, kaufte eine Nagelbürste und ließ ihn nicht hinein.

Marret mit den Klapperlatschen und dem zerfledderten ERWACHET!-Heft gehörte zu den Leuten aus dem Dorf, den Nachbarn und Bekannten, den Zustellern und Lieferanten, die durch die Hintertüren in die Häuser kamen und auf den Küchenbänken sitzen durften. Man legte Zigaretten auf den Tisch, holte Weinbrand oder Bier und stellte, wenn Marret kam, ein bisschen Saft und Schokolade hin. Manchmal sang sie nach den Zeichen und der Wahrheit noch ein Lied. Stand auf und breitete die Arme aus und sang wie Connie Francis oder Heidi Brühl, weil sie die Schlagerlieder noch mehr liebte als die Untergänge.

In den Liedern, die sie sang, wollten die Menschen siebzehn sein. Mit siebzehn träumte man, dann kam das Glück, dann wurde alles gut. Ich schau den weißen Wolken nach und fange an zu träumen.

Dass manchmal auch das Unglück kam, das war ein anderes Lied: Mit siebzehn träumte man, dann kam ein Kind, dann wurde man verrückt. Vielleicht war man auch erst verrückt, dann kam das Kind, die Reihenfolge war in Marrets Fall nicht klar.

Der Vater ihres Kindes konnte keiner aus dem Dorf gewesen sein, so viel stand fest. Denn Marret Feddersen, so klein sie war, hatte die Brinkebüller Bauernjungen gar nicht angesehen, wenn sie auf den Festen mit ihr tanzten. Auch an den Tischler- und den Bäckersöhnen immer stur vorbeigeschaut, von ihnen weg, den Blick schräg über ihre Köpfe, in die Ferne, in die Höhe.

Zu schräg für Sönke Feddersen, der hinter seinem Tresen fast die Gläser in der Hand zerdrückte, wenn er die Tochter so mit ihrer hohen Nase tanzen sah. Auch das Verwehte und das Flackernde an ihr, das Singen immer und dann plötzlich Schreierei und dann drei Tage lang kein Wort, es machte Sönke Feddersen verrückt. Mal ging es eine Weile gut, dann hörte sie, wenn jemand mit ihr sprach, und gab auch Antwort wie ein ganz normaler Mensch. Dann wieder dieses Flackern.

Wurde siebzehn, wurde schwanger, sagte niemandem, von wem. Und ließ sich auch nicht heiraten von Hauke Godbersen, der sie genommen hätte, mit ihrer hohen Nase und dem Rest.

Marret Feddersen war nicht zu retten, schon damals nicht.

Mit ihrem Unbekannten musste es gewesen sein wie in den Liedern, die sie sang. Schöner fremder Mann Einer von drei jungen Ingenieuren, einquartiert im Gasthof Feddersen im Sommer 1965, als Landvermesser für die Flurbereinigung … du bist lieb zu mir.

Er hinterließ die Brinkebüller Feldmark aufgeräumt und übersichtlich, baum- und heckenlos, die breiten Wirtschaftswege wie mit dem Lineal gezogen, die Felder riesengroß, die Wälle und die...