Der Kommissar und die Morde von Verdon - Philippe Lagarde ermittelt

von: Maria Dries

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841213167 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 3,99 EUR

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Der Kommissar und die Morde von Verdon - Philippe Lagarde ermittelt


 

Das Haus der Familie Laurent lag etwas abseits vom Dorf Les Salles-sur-Verdon auf einem Hügel über dem See. Der Ausblick war überwältigend. Die glatte türkise Wasseroberfläche glitzerte in der Sonne. Inmitten des Sees erhob sich eine kleine bewaldete Insel, die unbewohnt war. Schroffe weißgraue Kalkfelsen, lichte Pinienhaine, blühende Ginsterbüsche und helle Kieselstrände prägten das Landschaftsbild.

Die sandfarbene Villa der Laurents glich eher einem kleinen Schloss. Der Grundriss war quadratisch, jede der vier Ecken wurde von einem schlanken Turm flankiert. Das flache Ziegeldach war rot, ebenso die Hauben der Türme. Eine hohe Mauer umgrenzte den weitläufigen Park, in dem sich Zypressen, Schirmpinien und Zedern erhoben.

Mélanie Laurent saß auf der Terrasse unter einer Markise. Vor ihr, auf einer großen Sperrholzplatte, stand das Modell, an dem sie gerade arbeitete. Das Dorf, das entstehen sollte, verfügte bereits über einige Häuser, einen Brunnen und einen Friedhof. Die einzelnen Elemente waren aus kleinen flachen Korkteilen detailgetreu gefertigt. An den Fenstern flatterten schneeweiße Gardinen, am Brunnenaufbau hing ein winziger Blecheimer, und zwei Gräber waren mit rosa Miniaturrosen geschmückt. Sie war gerade dabei, einen Dachziegel aus rot lackiertem Kork aufzukleben, als ihre Pflegerin auf die Terrasse kam.

»Cédric ist da, Méla. Soll ich euch Kaffee und Kuchen bringen? Die Köchin hat Schokoladentarte gebacken.«

»Gerne, Bernadette, und Wasser bitte. Es ist so heiß heute.«

Cédric, ein großer, kräftiger, gutaussehender Mann, trat auf die Terrasse. Er begrüßte Mélanie mit einem liebevollen Kuss auf die Wange.

»Wie geht es dir, Schwesterherz?«, erkundigte er sich.

»Gut, danke.« Sie griff nach einem weiteren Korkteilchen. Cédric betrachtete stirnrunzelnd das unfertige Dorf auf der Platte, die fast den gesamten Tisch einnahm, und setzte sich. Die Pflegerin kam mit einem beladenen Tablett und stellte es auf der Sitzfläche eines Stuhles ab.

»Danke schön, Bernadette. Wir bedienen uns selbst.«

Mélanie lächelte sie an. Dann schenkte sie für Cédric und sich Kaffee ein und legte Kuchenstücke auf die Teller. »Ich freue mich, dass du da bist und mir ein wenig Gesellschaft leistest«, sagte sie. »Lass es dir schmecken.«

Nachdenklich betrachtete sie ihr Werk aus Kork. Kuchen und Kaffee hatte sie vergessen. »Was meinst du, Cédric? Soll ich die Schindeln für das Kirchendach ockerfarben lackieren oder lieber sandfarben? Ich bin auch am Überlegen, ob ich nicht eine winzige Glocke gießen lasse. Ganz originalgetreu. Bei den Glocken, die man im Laden für Kunsthandwerk kaufen kann, handelt es sich um Kinderspielzeug aus Blech. Das finde ich unangemessen.«

Sie erwartete keine Antwort und zupfte gedankenverloren eine Gardine zurecht. »Mit dem Brunnen bin ich nicht zufrieden. Ich denke, ich werde dafür silbern glitzernde Kieselsteine am Seeufer sammeln.« Kurz war sie wieder bei ihm und sah ihn mit ihren ernsten blauen Augen an. »Keine Sorge, Bernadette wird mich natürlich begleiten.« Mélanie griff nach einem feinen Pinsel und tauchte die Spitze in ein Lackdöschen. Die Zungenspitze erschien zwischen ihren Lippen, so konzentriert arbeitete sie. Cédric kam sich völlig überflüssig und unbeachtet vor und verlor die Geduld. »Méla, rede mit mir!« Seine Stimme klang eine Nuance zu scharf und zu laut. Sie fuhr zusammen und starrte ihn erschrocken an.

Ungehalten deutete er auf das Miniaturdorf. »Hör doch endlich auf damit. Das macht doch keinen Sinn. Wie viele Modelle verstauben bereits auf dem Dachboden? Dreißig? Vierzig? Du baust sie aus Legosteinen, Knetmasse, Streichhölzern, Ton, Pappmaché, Spielmais, Plastilin und was weiß ich alles noch. Das muss ein Ende haben. Es tut dir nicht gut.«

Sie hörte nicht zu und lackierte den Pfosten eines Gartenzaunes flaschengrün.

»Wir könnten eine kleine Reise unternehmen. Was meinst du? Das würde dir bestimmt guttun.«

Mélanie summte leise vor sich hin. Als sie einen winzigen gelben Vogel auf einer Dachrinne befestigte, platzte ihm der Kragen. »Jetzt ist Schluss mit diesem Unsinn!«, brüllte er. »So wirst du nie gesund!« Wütend sprang er auf, packte die Sperrholzplatte und schleuderte sie über die Brüstung. Kurz schwebte das Modell horizontal in der Luft, dann kippte es und verschwand aus ihrem Blickfeld. Cédric stürmte davon und ließ Mélanie alleine auf der Terrasse zurück. In Panik sprang sie auf, lief zum Geländer und starrte nach unten. Dort loderte ein Feuer, das der Gärtner entzündet hatte, um Reisig und dürre Äste zu verbrennen. Sie musste hilflos mit ansehen, wie ihr geliebtes Dorf in Flammen aufging. Das Feuer fraß es unerbittlich auf, und es war nicht mehr zu retten. Dieser Gedanke war unerträglich. Ihr Gesicht verlor jede Farbe. Sie war unfähig sich zu bewegen.

Cédric hatte inzwischen den Vorhof erreicht und blieb abrupt stehen. Seine Wut war so schnell verflogen, wie sie gekommen war. Sein Ausbruch tat ihm entsetzlich leid. Er hätte Méla nicht so erschrecken dürfen. Kurz überlegte er, ob er zu ihr zurückgehen sollte. Er entschied sich jedoch dagegen. Es war klüger zu warten, bis sie sich beruhigt hatte. Später würde er wiederkommen und sie zu einem Segeltörn auf dem See überreden. Manchmal begleitete sie ihn tatsächlich. Sie liebte das türkis schimmernde Gewässer. Abends würden sie gemeinsam essen und anschließend das Modell reparieren.

Dicke Tränen liefen über Mélanies Wangen. Sie konnte es nicht fassen, dass ihr Dorf verbrannt und nur hässliche graue Asche übriggeblieben war. Als das Feuer niederbrannte, lag der beißende Geruch von Rauch in der Luft. Wie ferngesteuert verließ sie die Terrasse, durchquerte den Salon und gelangte in den Korridor. Sie lauschte und schlich auf leisen Sohlen bis zum Hinterausgang. Bernadette war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hielt sie sich in der Küche auf, die im Untergeschoss lag, und plauderte mit der Köchin. Mélanie huschte aus dem Haus und zog die Tür leise hinter sich zu. Rasch lief sie zur Gartenpforte und schlüpfte hindurch. Über eine Wiese gelangte sie zu einem Pfad, der zu den Kalkfelsen führte. Jetzt konnte sie vom Haus aus niemand mehr sehen. Langsam, mit gleichmäßigen Schritten, folgte sie dem Weg, den Blick geradeaus gerichtet. Die Nachmittagshitze hatte sich auf die Hochebene gelegt. Wilder tiefroter Oleander, sonnengelbes Ginstergebüsch und herb duftender Wacholder spendeten nur wenig Schatten. Der Anblick von zwei Wildeseln zauberte für einen Moment ein Lächeln auf Mélanies Gesicht. Gleich darauf verschwand es wieder, und ihr Gesichtsausdruck versteinerte. Sie nahm sich nicht die Zeit, so wie sonst Blumen zu pflücken und einen bunten Kranz für ihre Haare zu binden. Als sie den Felsabbruch erreicht hatte, setzte sie sich auf einen flachen Stein. Sie betrachtete den See, über den weiße Segel zogen. An einem Anleger schaukelten Fischerboote. Angler saßen auf einem Steg auf Klappstühlen.

Cédric hatte einige wichtige Schreibarbeiten im Büro erledigt und sich dann umgezogen. Er trug jetzt eine bequeme Leinenhose, ein weißes Baumwollhemd und Segelschuhe. Gegen siebzehn Uhr kehrte er in die Villa zurück und suchte nach seiner Schwester. Er fand sie weder auf der Terrasse noch im Salon. Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er in den zweiten Stock und klopfte an ihre Schlafzimmertür. Es folgte keine Reaktion. Er klopfte erneut, öffnete die Tür und rief ihren Namen. Der Raum war leer, das Bad ebenso. Cédric wurde nervös. Vom Balkon aus ließ er seine Blicke über den Park schweifen. Er sah nur den Gärtner, der ein Blumenbeet harkte. Die Nachmittagssonne spiegelte sich im See und tauchte ihn in ein sanftes, blaugelbes Licht. Cédric eilte in das Untergeschoss und ging in die Küche. Dort traf er auf die Köchin und Mélanies Pflegerin Bernadette, die am Tisch saßen, Kaffee tranken und einträchtig einen Plausch hielten.

»Wo ist Mélanie?«, fragte er mit barscher Stimme. Die beiden Frauen sahen ihn erschrocken an. Bernadette fing sich als Erste wieder. »Auf der Terrasse. Sie arbeitet bereits seit heute Morgen an ihrem neuen Modell.«

»Da ist sie nicht.«

»Dann hat sie sich wahrscheinlich hingelegt. Sie hält nachmittags gerne einen Mittagsschlaf.«

»In ihrem Zimmer ist sie auch nicht.«

Jetzt war der Pflegerin ihre Nervosität deutlich anzusehen. Auch die Köchin, die sonst nichts aus der Ruhe bringen konnte, wirkte plötzlich angespannt.

»Waren Sie schon an ihrem Lieblingsplatz im Garten?«, fragte sie und wusste die Antwort bereits. Natürlich hatte Monsieur Cédric dort schon gesucht.

Unwirsch schüttelte er den Kopf. »Da ist sie nicht.« Vom Balkon aus hatte er die Bank am Goldfischteich inmitten des Rosenlabyrinths sehen können. Da war niemand gewesen. Er fühlte eine eiskalte Hand nach seinem Herzen greifen. Wo war seine Schwester?

»Sie werden dafür bezahlt, dass Sie auf sie aufpassen!«, brüllte er. Dann rannte er in den Park und suchte nach Méla, hinter jedem Busch, jedem Mäuerchen, jeder größeren Pflanze und schließlich am Brunnen. Er überprüfte hastig das Gitter auf dem schwarzen klaffenden Loch. Es war nach wie vor fest verschraubt und mit einem stabilen Eisenschloss gesichert. In wachsender Panik suchte er im Gemüsegarten, hinter den Feuerbohnen und den Brombeersträuchern. Manchmal saß sie dort verträumt im Gras und naschte süße Früchte. Nichts.

Als er unterhalb der Terrasse die Feuerstelle entdeckte,...