Die Flut des Feuers - Roman

von: Amitav Ghosh

Blessing, 2016

ISBN: 9783641199937 , 864 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Flut des Feuers - Roman


 

ERSTES KAPITEL

Havildar Kesri Singh war der Typ Soldat, der gern an der Spitze der Kolonne ritt, besonders an einem Tag wie diesem, an dem sein Bataillon durch bereits unterworfenes Gebiet marschierte, und die einzige Aufgabe der Vorhut darin bestand, die Fahne des paltans zu tragen und für die Dorfbewohner, die sich am Straßenrand drängten, das beste Paradegesicht aufzusetzen.

Es waren einfache Leute, und Kesri wusste, auch ohne sie anzusehen, dass sie ihn mit großen Augen bestaunten. Sepoys der Ostindien-Kompanie waren kein alltäglicher Anblick in diesem entlegenen Teil Assams. Dass ein ganzer paltan des 25. Regiments der Bengal Native Infantry – der berühmten Pachisi – durch ihre Reisfelder marschierte, war vermutlich der größte tamasha, den die meisten hier in einem ganzen Jahr oder gar Jahrzehnt erleben würden.

Immer mehr Menschen liefen herbei – Bauern, alte Frauen, Kuhhirten, Kinder –, so eilig, als fürchteten sie, das Spektakel zu verpassen; dass es sich noch über Stunden hinziehen würde, konnten sie nicht wissen.

Unmittelbar hinter Kesri marschierte die sogenannte Rasad Guard, der Versorgungstrupp des paltans. Ihm folgte der Tross, mit über zweitausend Menschen weit zahlreicher als die sechshundert Sepoys, gleichsam eine Stadt auf Rädern, eine lange Karawane von Ochsenkarren, auf denen Leute aller Art reisten: Pandits und Milchfrauen, Krämer und Banjara-Getreidehändler, sogar eine Gruppe Basarmädchen. Auch Unmengen von Tieren gab es da: lärmende Schaf-, Ziegen- und Rinderherden ebenso wie einige Elefanten, die das Gepäck der Offiziere und das Mobiliar der Offiziersmesse trugen: schwankende Tische und Stühle, die Füße in der Luft, wie umgekippte Käfer. Sogar ein transportabler Tempel rollte auf einem Karren mit.

Erst nachdem all das vorbeigezogen war, ertönten rhythmische Trommelschläge, und eine Staubwolke stieg auf. Der Boden erzitterte im Takt der Trommeln, und die erste Reihe Sepoys tauchte auf, zehn Mann, Seite an Seite, an der Spitze eines langen, gewundenen Stroms dunkler topis und blitzender Bajonette. Die Dorfbewohner liefen davon, um dann im Schutz von Bäumen und Büschen die unter Pfeifen- und Trommelklängen vorbeiziehenden Sepoys zu bestaunen.

Kaum ein anderer tamasha konnte sich mit dem Spektakel der marschierenden Bengal Native Infantry messen. Allen im paltan war das bewusst – den Dandia-valas ebenso wie den Natch-Mädchen, Bangy-burdars, Syces, Khansamas, Bheri-valas und Bhistis –, ganz besonders aber Havildar Kesri Singh, der die Galionsfigur des Bataillons darstellte, wenn er an der Spitze der Kolonne ritt.

Nach Kesris Überzeugung gehörte es zum Kriegshandwerk, sich eindrucksvoll zu präsentieren, und er gab gerne zu, dass er vor allem wegen seines Äußeren so häufig ausersehen wurde, die Kolonne anzuführen. Man konnte es ihm kaum zum Vorwurf machen, dass er in den Jahren des Kriegsdienstes allerlei Narben davongetragen hatte, die seinem Aussehen zum Vorteil gereichten. Er hatte es sich nicht ausgesucht, dass der Hieb eines Schwertes seine Lippen dauerhaft um einiges voller erschienen ließ und einen Schmiss wie eine filigrane Tätowierung in die lederdunkle Haut seiner Wange gezeichnet hatte.

Nicht, dass Kesris Gesicht das imponierendste im ganzen paltan gewesen wäre. Mit seinem säbelkrummen Schnauzbart und der markanten Stirn konnte er zwar höchst Furcht einflößend aussehen, doch gab es andere, die ihn darin weit übertrafen. Niemandem aber stand die Uniform so gut wie ihm: Das schwarze Tuch der Hose umspannte seine Schenkel wie eine zweite Haut und ließ die mächtigen Muskeln hervortreten, die Epauletten auf seinen breiten Schultern wirkten eher wie Waffen denn wie Zierrat, und bei keinem kam der scharlachrote Waffenrock mit den leuchtend gelben Aufschlägen so gut zur Geltung wie bei ihm. Und nicht nur er selbst fand, dass die dunkle topi, hoch wie ein Bienenkorb, auf seinem Kopf besser saß als auf jedem anderen.

Dass er die Kolonne häufiger anführen durfte als irgendeiner der Sepoy-Afsars, rief bei den anderen Unteroffizieren des Bataillons einigen Unmut hervor. Ihre Klagen fochten ihn jedoch nicht über Gebühr an, denn auf die Meinungen Gleichrangiger gab er nicht viel. Die meisten waren stumpfe, schwerfällige Männer, und es erschien ihm nur natürlich, dass sie ihn beneideten.

Nur einen der Sepoys schätzte Kesri: Subedar Nirbhay Singh, den ranghöchsten Inder im Bataillon. Zwar war ein Subedar offiziell noch dem einfachsten englischen Soldaten untergeordnet, aber kraft seiner Persönlichkeit wie auch seines familiären Hintergrundes war Subedar Nirbhay Singhs Einfluss im paltan so groß, dass selbst Major Wilson, der Bataillonskommandant, sich ungern mit ihm anlegte.

Für die Inder im paltan war Subedar Nirbhay Singh nicht nur ihr ranghöchster Vorgesetzter, sondern als Spross einer Rajputenfamilie, die über drei Generationen den Kern des paltans gebildet hatte, auch ihr Patriarch. Sein Großvater war jener Daftardar gewesen, der dem Regiment nach seiner Gründung vor sechzig Jahren zu seinem Aufstieg verholfen hatte. Er hatte dort als erster Subedar gedient, und sein Rang war auf viele seiner Nachkommen übergegangen. Der jetzige Subedar hatte ihn von seinem älteren Bruder geerbt, der einige Jahre zuvor seinen Abschied genommen hatte: Subedar Bhairo Sing.

Die beiden entstammten einer Grundbesitzerfamilie am Rand der Stadt Ghazipur, nahe Benares. Da die meisten Sepoys des Bataillons aus dieser Gegend kamen und auch derselben Kaste angehörten, verfügten viele über Beziehungen zum Clan des Subedars; schon die Väter einiger von ihnen hatten unter seinem Vater und seinem Großvater gedient.

Kesri gehörte zu den wenigen im paltan, die diesen Vorteil nicht genossen. Sein Heimatdorf Nayanpur lag an der äußersten Peripherie des Rekrutierungsbereichs des Bataillons, und seine einzige Verbindung zur Familie des Subedars war seine jüngste Schwester Diti, die mit einem Neffen Nirbhay Singhs verheiratet war. Kesri war maßgeblich am Zustandekommen dieser Ehe beteiligt gewesen, und sie hatte bei seinem Aufstieg zum Havildar keine geringe Rolle gespielt.

Kesri war fünfunddreißig und hatte nach neunzehn Jahren im paltan noch zehn bis fünfzehn Jahre aktiven Dienst vor sich. Er rechnete fest damit, dass er mit Subedar Nirbhay Singhs Unterstützung demnächst zum Jamadar befördert werden würde. Und warum sollte er nicht irgendwann selbst Subedar des Bataillons werden? Er kannte nicht einen einzigen Sepoy-Afsar, der ihm an Intelligenz, Kraft und Erfahrung das Wasser hätte reichen können. Er hatte es verdient.

Zachary Reid hatte im Lauf der letzten Monate so viele Rückschläge erlebt, dass er an das bevorstehende Ende seines Martyriums erst glauben konnte, als er in der Calcutta Gazette den Bericht über die Untersuchung las, die ihn rehabilitiert hatte.

5. Juni 1839

… und dieser Rückblick auf die denkwürdigen Ereignisse der Woche wäre nicht vollständig, ohne der gerichtlichen Untersuchung Erwähnung zu tun, nach deren Abschluss Mr. Zachary Reid, ein einundzwanzigjähriger Seemann aus Baltimore, Maryland, von jeglicher Schuld an den bedauerlichen Vorfällen auf dem Schoner Ibis im September vergangenen Jahres freigesprochen wurde.

Diejenigen unter Ihnen, die die Calcutta Gazette regelmäßig lesen, brauchen wohl kaum daran erinnert zu werden, dass sich die Ibis mit zwei Sträflingen und einem Kontingent Kulis an Bord auf der Fahrt nach Mauritius befand, als auf dem Schiff Unruhen ausbrachen, die in der Ermordung des Obersardars der Auswanderer gipfelten, eines gewissen Bhairo Singh, ehemaliger Subedar der Bengal Native Infantry und Träger zahlreicher Tapferkeitsauszeichnungen.

Kurz nach dem Mord geriet die Ibis in einen schweren Sturm, nach dessen Abflauen sich herausstellte, dass eine Gruppe von fünf Männern auch Mr. John Crowle, den ersten Steuermann des Schiffs, umgebracht hatte und anschließend in einem Beiboot geflüchtet war. Rädelsführer war der Serang der Mannschaft, ein Ganove aus Arakan, und unter den fünfen befanden sich auch die beiden Sträflinge, einer von ihnen der frühere Raja von Raskhali, Nil Rattan Halder (welches Aufsehen der Prozess gegen den Raja und seine Verurteilung wegen Urkundenfälschung im vergangenen Jahr unter den Eingeborenen Kalkuttas erregten, dürfte den meisten europäischen Einwohnern der Stadt noch in frischer Erinnerung sein).

Nach dem Sturm wurde die havarierte Ibis von der Brigantine Amboyna ohne weitere Verluste an Menschenleben nach Port Louis eskortiert. Dort erhoben die Bewacher der Kulis sogleich Klage gegen Mr. Reid und beschuldigten ihn, den fünf Budmashs – unter ihnen der Mörder des Subedars, ein Kuli aus dem Bezirk Ghazipur – zur Flucht verholfen zu haben. Aufgrund der Schwere dieser Anschuldigung wurde entschieden, den Fall an die Behörden in Kalkutta zu verweisen. Mr. Reid wurde nach Indien zurückgeschickt und unter gerichtliche Aufsicht gestellt. Zu seinem Unglück hatte er nach seiner Ankunft in Bengalen eine mehrmonatige Wartezeit zu erdulden, die vor allem dem schlechten Gesundheitszustand des Hauptzeugen Mr. Chillingworth zuzuschreiben war, des Kapitäns der Ibis. Mr. Chillingworths Reiseunfähigkeit war dem Vernehmen nach der Hauptgrund für die wiederholte Verschiebung der Untersuchung …

Nach einer dieser Verschiebungen hatte Zachary ernsthaft erwogen, einen Schlussstrich zu ziehen und sich aus dem Staub zu machen. Kalkutta zu verlassen wäre nicht weiter schwierig gewesen: Er war nicht in Haft und hätte ohne Weiteres auf einem der Schiffe im...