Wie Romane entstehen

von: Hanns-Josef Ortheil, Klaus Siblewski

Luchterhand Literaturverlag, 2009

ISBN: 9783641016616 , 288 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Wie Romane entstehen


 

ERSTE VORLESUNG
Notieren und Skizzieren
Meine Damen und Herren!
 
Vor genau achtzig Jahren hielt der britische Roman-Autor Edward Morgan Forster am Trinity College in Cambridge seine bald berühmt gewordenen Vorlesungen Aspects of the Novel.1 Darin erläuterte er anhand von vielen Beispielen aus der englischen Romanliteratur seine Sicht auf die Gattung des Romans, dessen Besonderheiten er einem interessierten, aber nicht übermäßig vorinformierten Leser-Publikum näher bringen wollte.
Anders als viele andere Autoren vor ihm wählte Forster für seine Poetik-Vorlesungen eine doppelte Perspektive: Er sprach nicht direkt und ausschließlich von seiner eigenen »Poetik des Romans«, sondern er versuchte, seinen Zuhörerinnen und Zuhörern eine Vorstellung davon zu geben, mit welch typischen Erzähl-Problemen Romanautoren zu tun haben, wenn sie an einem Roman arbeiten. Die Geschichte, die Figuren, die Fabel … – all das waren solche Erzähl-Probleme, deren Gestaltung und Ausarbeitung durch die unterschiedlichsten Autorinnen und Autoren Forster anhand von kurzen Text-Auszügen aus ihren Romanen zu verdeutlichen suchte.
Zum einen sprach Forster dabei als ein Schriftsteller, der die besonderen Probleme der »Romanarbeit« aus eigener Anschauung kannte und sie daher gleichsam von innen her nachvollziehen konnte, zum anderen aber auch als ein Beobachter und Essayist, der bestimmte Passagen aus den Werken seiner Kolleginnen und Kollegen auf ihre besonderen Eigentümlichkeiten hin prüfte und miteinander verglich.
 
Dabei ging es ihm nicht um die Unterscheidung bestimmter Romanformen, sondern um den »Roman an sich« und damit um Gestaltungsprobleme, die in allen Romanen eine Rolle spielen. Was der »Roman an sich« sei, fixierte er in seinen Vorlesungen gleich zu Beginn weniger in poetologischer Manier als in einer möglichst pragmatischen und einfachen Beschreibung dessen, womit wir es beim Roman zu tun haben. Wir haben es beim Roman, sagte Forster, mit einer »Prosaerzählung von einer gewissen Länge« zu tun, diese Länge fixieren wir mit der Zahl von etwa 50 000 Worten, so daß wir sagen können: »Jede freie Prosadichtung von über 50 000 Worten ist im Sinne dieser Vorlesungen ein Roman...«2
 
Der Roman als »lange Prosaerzählung« – mit Hilfe dieser ebenso einfachen wie verblüffenden Definition hielt sich Forster genauere Unterscheidungen dessen, was alles »ein Roman« sein könne, vom Leibe. Stattdessen konnte er sich nun jenen Grundkomponenten zuwenden, auf deren Erläuterung es ihm vor allem ankam, ja er konnte zeigen, was Romanautorinnen und Romanautoren nun alles tun und in Bewegung setzen müssen, um eine Erzählung »von einer gewissen Länge« zu schreiben: Sie müssen eine Geschichte entwerfen und aus Elementen einer Geschichte eine Fabel knüpfen, sie müssen Figuren erfinden und ihre Entwicklung über einen beträchtlichen Zeitraum verfolgen usw.
 
Anders als im Falle der meisten anderen literarischen Gattungen können Romanautorinnen und Romanautoren sich bei dieser Arbeit aber nicht auf einen in vielen Jahrhunderten entstandenen und damit durch eine lange Tradition legitimierten Kanon von Regeln und Strukturen stützen. Der »Roman«, sagt Forster vielmehr mit Recht, »ist eine gewaltige amorphe Masse – kein Gipfel, den man ersteigen könnte, kein Parnass oder Helikon, nicht einmal ein Berg Nebo, von dem aus man ins Gelobte Land schauen könnte. Der Roman ist recht eigentlich eine der feuchteren Gegenden der Literatur, durchzogen von Hunderten von Wasserläufen und streckenweise zu sumpfigen Niederungen ausgeartet«,3 mit anderen Worten: Der »Roman« ist ein unübersichtliches, sich häufig chaotisch darstellendes Gelände, das alle Planungsabsichten von vornherein bedroht oder in Frage stellt.
 
Das Wilde, ja Chaotische, das ihm innewohnt, rührt eben daher, dass seine Materialien und Stoffe nicht begrenzt sind, der Roman ist eine prinzipiell offene Form, er verträgt nicht nur Zuflüsse und Zuläufe von allen Seiten, sondern er verlangt geradezu nach Vermehrung, Ausbreitung und einem Über-die-Ufer-Treten. Als »Erzählung« von einer nicht absehbaren Länge zieht er immer weitere und neue Materialien und Stoffe an und bringt seinen Autor dadurch in immer stärkere Verlegenheit: Wie, fragt sich dieser Autor, können all diese vermehrungssüchtigen Stoffmassen gebändigt, wie geordnet werden, wie erzählt man Geschichten von einer gewissen Länge, ohne den Überblick zu verlieren oder gar in den heranflutenden Seitenarmen und Nebenströmen des Romanflusses zu ertrinken?
 
Solche Fragen deuten an, dass dem Roman ein ungeheuer vitales, dynamisches und entgrenzendes Moment zugrunde liegt. Der Roman ist eine gefräßige, monströse Gattung, er ist vergleichbar einem sich ununterbrochen mästenden, verfressenen Tier, das sein Autor und Erzeuger mit immer neuem Material füttern und stopfen muss. Indem der Roman auf Unendlichkeit und Totalität aus ist, fesselt und bindet er seinen Autor oft jahrelang an sich, laufend, fast täglich, muss er neu inszeniert und auf eher künstliche Weise zusammengehalten werden, während er nach nichts mehr drängt als danach, seine Elemente zu vervielfachen, zu spalten oder gar vollständig zu isolieren.
 
Im Zentrum dieses Wucherungsprozesses scheint ein all seine Teile und Elemente ansteckender und laufend verändernder Virus zu stecken, ein Virus von eminenter Kraft und Anziehung, eine starke Potenz, die ich im Folgenden als das Romanhafte bezeichnen werde. Das Romanhafte ist rohe, sich unaufhörlich vermehrende Erzähl-Energie, diese Energie ist süchtig nach immer neuen Räumen, und sie verschlingt Zeitmassen, als hätten sie nichts zu bedeuten und als könnten sie ewig oder immer von Neuem, in unendlich vielen, wechselnden Konstellationen, aneinandergereiht werden.
Will man die Wirkungen dieser Erzähl-Energie beobachten, so kann man sich an Romanautoren (man denke an Balzac, Flaubert oder Tolstoj, an Thomas Mann oder Georges Simenon) halten, deren gesamtes Erleben und Leben durch diese Bindung geprägt sind. Ihr eigentliches Zuhause ist die Roman-Werkstatt, ein unübersichtlicher, labyrinthischer Bau von Notizen, Aufzeichnungen, Skizzen, Fragmenten, Plänen oder Tagebuch-Elementen, der nie an ein Ende kommt und immer wieder neue »Romane« ausstößt und gebiert. Freiwillig, könnte man meinen, setzt sich ein Romancier dem Zwang, den das Romanhafte ausübt, nicht aus, es muss sich bei der Roman-Arbeit um etwas anderes handeln als um eine mehr oder minder beliebige Tätigkeit, in Wahrheit scheint es Schriftsteller mit einer gewissen Roman-Disposition zu geben, sie können und wollen nichts anderes als Romane schreiben, für alles andere sind sie verloren.
 
Diese Disposition zu belegen, ist nicht weiter schwer, schon ein kurzer Blick auf die lange Reihe typischer Romanautoren, die beinahe nur Romane geschrieben haben, für die Lyrik absolut unbrauchbar und auch im Dramatischen keine großen Meister, wohl aber Autoren umfangreicher Notiz-Sammlungen, Essays oder Tagebücher sind, belegt das. Stößt man auf eine Schriftsteller-Werkstatt, die von den Elementarformen des Schreibens, der Notiz, der Skizze und dem Fragment, getragen wird, so kann man beinahe sicher sein, es mit einem für den Roman disponierten Autor zu tun zu haben, dessen gesamte LebensEnergie von der Erzähl-Energie des Romans, dem also, was ich das Romanhafte nenne, in einer totalen Weise beansprucht wird.
In der deutschen Literatur ist Jean Paul (1763-1825) das bedeutendste Beispiel für einen solchen Autoren-Typus, kein anderer deutscher Schriftsteller hat eine so umfangreiche und detaillierte Roman-Werkstatt angelegt und jahrzehntelang an ihr gebaut, alles Leben verschwand gegenüber dem Schreiben, das Schreiben war allgegenwärtig und in jedem Moment präsent und dadurch so etwas wie ein prägendes, starkes Milieu, das einzige konstante Milieu seiner Existenz. Schon im Alter von fünfzehn Jahren hat Jean Paul ihm Kontur und Gestalt gegeben, es war der Entwurf einer gewaltigen, von Tag zu Tag immer mehr ins Unüberschaubare wachsenden Notate-Sammlung, von der nur ein geringer Teil später Eingang in seine Veröffentlichungen fand. Denn nicht der Druck und die spätere Resonanz waren das Ziel des Notierens und Schreibens und begründeten seine Magie, vielmehr war es das Notieren und Schreiben selbst, was Jean Paul so anzog und fesselte.
 
Die Feder ansetzen, etwas abschreiben oder aufzeichnen, eine Notiz machen, Notizen nummerieren und sammeln – das ist in seinem Fall der immer wiederkehrende Urakt des Roman-Schreibens, demgegenüber alle synthetisierenden oder auf geschlossene Organismen hin angelegten Momente verblassen. Ein Notierer, ein Notizenmacher zu sein – das bedeutet: Gewiss sein zu können, dass die Schrift fließt, dass sie, um sich in Szene zu setzen, keiner großen Vorbereitungen bedarf, dass sie sich vielmehr von...