Endlose Nacht

von: Kresley Cole

LYX, 2016

ISBN: 9783736300859 , 450 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Endlose Nacht


 

1


Houston County, Texas

Vor vierzehn Jahren

Als Jo erwachte, hatte sie einen metallischen Geschmack im Mund.

Vorsichtig bewegte sie Lippen und Zunge. Was ist da in meinem Mund?

Blitzartig riss sie die Augen auf. Im nächsten Moment setzte sie sich kerzengerade hin und spuckte zwei Stücke zerdrücktes Metall aus. Was zum Teufel ist das denn?

Sie hielt sich den schmerzenden Kopf und blickte sich um, rümpfte die Nase, als sie den antiseptischen Geruch wahrnahm. Wo bin ich? Im sie umgebenden Dämmerlicht konnte sie alles nur verschwommen wahrnehmen, glaubte aber zu erkennen, dass der Raum gefliest war.

Mist, war sie in einem Krankenhaus? Gar nicht gut, das würde bedeuten, dass Thaddie und sie wieder in einer Pflegeunterbringung und von der Straße runter waren. Was wiederum bedeutete, dass sie ihn noch einmal da rausholen musste.

Wo befand er sich aber genau? Warum konnte sie sich nicht mehr erinnern, was passiert war?

Denk nach, Jo. DENK NACH! Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?

Langsam begannen die Bilder dieses Tages an die Oberfläche zu steigen …

Langsam wird es echt zu riskant, hierzubleiben.

Jo, die sich immer weiter der Bibliothek näherte, suchte die Straßen nach dem Chevrolet Monte Carlo des Bandenoberhauptes ab. Sie glaubte, den eben erst eingebauten Motor des Wagens ein paar Blocks weit entfernt röhren zu hören.

Die Straßen dieses Viertels waren ein Labyrinth, der Monte Carlo ein Drache. Sie war eine mutige Heldin, die ihren zuverlässigen Kumpan und Helfer auf dem Rücken trug.

Aber die letzte Nacht war kein Spiel gewesen.

Sie wandte den Kopf, um Thaddie zu fragen: »Was denkst du?« Sein kleiner Körper saß sicher in dem geklauten Rucksack, den sie für ihn umgerüstet hatte, indem sie Löcher für seine Beine hineingeschnitten hatte. »Wir haben sie abgehängt, oder?«

»Appehängt!« Zur Feier ihres Sieges schwenkte er sein einziges Spielzeug, eine Spiderman-Puppe.

Thaddie und sie sollten sich lieber schleunigst aus dem Staub machen. Vielleicht sollten sie sich auf den Weg nach Florida machen, in Key West noch mal von vorne anfangen.

Ein letztes Mal musterte sie ihre Umgebung, ehe sie durch die Hintertür der Bibliothek schlüpfte, die Mrs Brayden – Teilzeitbibliothekarin und Ganztagswichtigtuerin, alias MizB – für sie offen gelassen hatte.

Die Frau befand sich im Aufenthaltsraum, wo sie bereits den Kinderhochstuhl aufbaute. Ihr Picknickkorb war voll bis obenhin.

Rieche ich da etwa Brathuhn?

»Ich hoffe, ihr beide habt tüchtigen Hunger.« Mrs Braydens dunkelbraunes, schulterlanges Haar war von grauen Strähnen durchsetzt. Die Augen hinter den eckigen Brillengläsern waren hellbraun. Wie gewöhnlich trug sie einen unansehnlichen Hosenanzug.

Zeig bloß nicht, wie sehr du dich über Hühnchen freuen würdest. »Geht so.« Jo holte Thaddie aus dem Rucksack, setzte sich und rückte ihn auf ihrem Schoß zurecht. »Ich schätze, wir könnten schon was zu essen vertragen.« Sie schwang die Füße samt Kampfstiefeln auf den Tisch.

MizB stieß beim Anblick von Jos Outfit einen Seufzer aus: schäbige Jeans, fleckiges T-Shirt und ein schwarzes Hoodie. Die Frau hatte ihnen angeboten, ihre Kleidung zu waschen. Als ob Jo und Thaddie über eine Auswahl anderer Klamotten verfügten, die sie anziehen konnten, während sie warteten.

»Wir müssen reden, Jo.« Sie setzte sich, packte aber den Korb nicht aus.

»Oh, oh, Thaddie. Sieht so aus, als ob wir gleich eine Standpauke zu hören kriegen.« Jo zwinkerte ihm zu. »Was sagen wir zu MizB, wenn sie uns mit ihren Vorträgen nervt?«

Er grinste die Frau an, sodass sich Grübchen in seinem niedlichen Gesicht bildeten. Dann schrie er: »Leckmiss, leckmiss, leckmiss!«

Jo lachte, aber MizB fand das gar nicht komisch. »Ausgezeichnet, Josephine. Jetzt hat er sich also von dir das schmutzige Mundwerk abgeguckt.«

»Sein volles Potenzial an Schmutz hat er noch längst nicht erreicht. Aber das wird er noch. Denn mein kleiner Bruder ist brillant!« Er war zweieinhalb Jahre alt und ein kleines Genie.

Zumindest glaubte Jo, dass er so alt war. Vor dreißig Monaten hatte man sie am Stadtrand von Houston gefunden. Sie war in schwarze Gewänder gekleidet gewesen und hatte unverständliches Zeug vor sich hin gebrabbelt. Sie hatte Thaddie in den Armen gehalten und jeden angefaucht, der versuchte, ihn ihr abzunehmen. Sie hatte keinerlei Erinnerung an das, was vor diesem Tag geschehen war.

Die Ärzte hatten ihn als Neugeborenes und sie als acht Jahre alt eingeschätzt. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass ein Schädeltrauma ihren Gedächtnisverlust verursacht hatte.

Niemand hatte sich gemeldet, um sie abzuholen, keine Eltern, die an ihnen interessiert waren. Idioten.

Als Thaddie ihren Stimmungsumschwung spürte, ließ er seine Spidey-Puppe Jo einen Kuss auf die Wange geben. »Bussi!« Er lächelte wieder. Der Kleine zeigte zu gerne seine neuen Zähnchen.

Während Jo der Welt meistens eine grimmige Miene darbot, plapperte er unaufhörlich, grüßte jeden und erlaubte allen, mit seinem Spielzeug zu spielen. Wenn sie jemals ein eigenes Spielzeug besessen hätte, hätte sie es allein mit Thaddie geteilt.

»Bissu mein Feund?«, fragte er jeden. Und sobald er sie mit seinen großen, haselnussbraunen Augen anblinzelte, folgten begeisterte Ahs und Ohs.

Die Leute verliebten sich genauso schnell in ihn, wie sie Jo und ihr »mürrisches Verhalten«, ihr »kränkliches Aussehen« und ihre »verkniffene Miene« ablehnten.

»Er muss für die Vorsorgeuntersuchung zum Arzt«, sagte MizB. »Und er muss geimpft werden. Du übrigens auch.«

»Wenn Thaddie Sie nicht so gut leiden könnte, hätt’ ich Ihnen längst eine reingehauen. Das ist Ihnen schon klar, oder?« Sie wischte sich mit dem Ärmel über die laufende Nase. »Ihm geht’s gut. Uns geht’s geht.« Jo hatte nie vorgehabt, sich dermaßen von dieser Frau abhängig zu machen.

Vor einem Jahr war ihr die winzige Bibliothek wie ein gutes Versteck für einen Tag vorgekommen. Sie hatte vorgehabt, ein paar Comics zu klauen und Thaddie und sich auf der Toilette zu waschen, wie es auch die anderen Obdachlosen machten.

MizB hatte Jo und Thaddie Essen hingestellt und sich dann zurückgezogen, als ob sie Wildkatzen anlocken wollte.

Und das hatte auch funktioniert. Die Frau machte echt wahnsinnig gute Thunfischsandwiches.

Am nächsten Tag waren sie wiedergekommen. Und am nächsten, bis Jo MizB tatsächlich genug vertraut hatte, um Thaddie ab und zu für ein paar Stunden dort zu lassen.

Wann immer Jo gegen Bösewichte kämpfen musste.

Manchmal wurden die Kämpfe gefährlich. Sie blickte zum Fenster hinaus. Es ist viel zu riskant, hierzubleiben. Sie würde Geld für den Bus brauchen. MizB würde auf Thaddie aufpassen, und Jo würde ein paar Touristen um ihre Kröten erleichtern. Ihr Bestes tun, um deren Urlaub ein bisschen aufregender zu gestalten.

»Kriegen wir jetzt was zu essen, oder wie?« Eine komplette Mahlzeit für den bevorstehenden Trip wäre nicht schlecht.

»Nur Geduld.« MizB würde nicht eher ruhen, bis sie gesagt hatte, was ihr wichtig war.

Das Hühnchen roch wie frittiertes Crack. MizB war eine Zauberin! Aber eine, der die Heldin und ihr tapferer Helfer besser widerstehen sollten.

Sosehr Jo das Essen auch mochte, hasste sie es, wie Thaddie es herunterschlang. So, als ob er wüsste, dass er bei der nächsten Gelegenheit nur Tankstellenessen kriegen würde. Dadurch fühlte sie sich richtig mies.

Was würde Jo tun, wenn sie diese Stadt verließen? Wer würde dann für Jo auf Thaddie aufpassen? Wer würde ihnen jeden Tag etwas zu essen geben?

»Schon möglich, dass es euch einigermaßen gut geht«, sagte MizB. »Aber noch besser ginge es euch bei mir und Mr B.« Ihr Mann war ein rotgesichtiger Kerl, dessen Lachen klang, als ob es aus einem Fass käme. Er holte seine Frau jeden Tag von der Bibliothek ab und brachte sie auch morgens zur Arbeit. Er begleitete sie bis zur Tür, als ob sie irgendwie kostbar wäre. Offensichtlich gefiel es ihm gar nicht, dass sie in einer der schlimmsten Gegenden von Texas arbeitete.

Wenn die beiden glaubten, dass niemand sie sah, hakten sie ihre kleinen Finger ineinander. Weil sie total dämlich waren. MizB roch nach Zimt und Sonne. Mr B. nach Motoröl und Sonne.

Jo verspürte jedoch nicht den Drang, die beiden zu verprügeln, und das stellte bei ihr das Höchstmaß an Akzeptanz dar.

»Aber wir können euch beide nicht adoptieren, wenn ihr nicht wieder ins System zurückkehrt«, fuhr MizB fort.

Da es nicht den geringsten Hinweis darauf gab, dass ihre Eltern noch lebten, könnten Jo und Thaddie adoptiert werden. Die Braydens erfüllten alle Voraussetzungen dafür.

Doch Jo traute dem System nicht. »Und was passiert, wenn Sie und Mr B. uns nicht bekommen? Habe ich Ihnen schon mal von meinem ersten ›Pflegevater‹ erzählt? Am ersten Abend hat dieser Widerling seine Hand in meine Hose geschoben – noch ehe die verdammten Spätnachrichten angefangen hatten.«

»Sseißkerl«, bestätigte Thad.

MizB schürzte die Lippen. »Dieser Mann ist die Ausnahme der Regel. Und du hättest ihn melden müssen. Sonst schickt man am Ende noch andere Kinder zu ihm.«

»Nee. Das wird nicht passieren.« Jo hatte das Haus des...