Black Earth - Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann

von: Timothy Snyder

Verlag C.H.Beck, 2015

ISBN: 9783406684159 , 489 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Black Earth - Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann


 

Kapitel 1


LEBENSRAUM


Obwohl Hitler der Ansicht war, Menschen seien nichts weiter als Tiere, gelang es ihm dank seiner nur dem Menschen gegebenen Vorstellungskraft, seine zoologische Theorie in eine politische Ideologie zu verwandeln. Der Kampf ums Überleben der Rasse war demzufolge auch ein deutsches Ringen um Würde, und dem stand nicht nur die Biologie im Wege, sondern auch die Briten. Hitler war klar, dass die Deutschen im täglichen Leben nicht wie Tiere waren, die ihr Essen vom Boden zusammenscharrten. Als er seine Überlegungen 1928 im Zweiten Buch festhielt, erklärte er, eine gesicherte Lebensmittelversorgung sei nicht bloß eine Frage des physischen Überlebens, sondern auch eine Voraussetzung für das Gefühl von Souveränität. Die Seeblockade der Briten im Ersten Weltkrieg war nach Ansicht Hitlers nicht nur deshalb zum Problem geworden, weil sie während der Kampfhandlungen und in den Monaten zwischen dem Waffenstillstand und der Kapitulation Krankheiten und viele Opfer zur Folge gehabt hatte. Die Blockade hatte die deutsche Mittelschicht gezwungen, Gesetze zu brechen, um an die Lebensmittel zu gelangen, die sie benötigte oder zu brauchen meinte. Das hatte ihre Sicherheit und ihr Vertrauen in die Obrigkeit erschüttert.

In den 1920er und 1930er Jahren war die weltpolitische Ökonomie in Hitlers Augen von der britischen Seemacht geprägt. Hitler glaubte, dass die Briten für den Freihandel eintraten, um damit ihr Streben nach der Weltmacht zu kaschieren. Für sie war es sinnvoll, die Fiktion aufrechtzuerhalten, wonach Freihandel Zugang zu Nahrung für alle bedeute, denn dieser Glaube würde andere davon abhalten, mit den Briten um die Vorherrschaft zur See zu konkurrieren. Tatsächlich aber konnten einzig die Briten in einer Krisensituation ihren Zugang zu den Nahrungsressourcen verteidigen und auf demselben Wege anderen den Zugriff darauf verwehren. Die Briten verhängten also im Krieg die Blockade gegen ihre Gegner – im offensichtlichen Widerspruch zu ihrer eigenen Ideologie des Freihandels. Die Fähigkeit, über Nahrungsressourcen zu verfügen oder sie zu verweigern, so betonte Hitler, war eine Form von Macht. Hitler bezeichnete die Tatsache, dass niemand außer den Briten Versorgungssicherheit hatte, als «friedliche[n] Kampf der Wirtschaft».

Hitler wusste, dass sich Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren nicht von den Erzeugnissen des eigenen Territoriums ernährte, er wusste aber auch, dass die Deutschen nicht verhungert wären, wenn sie es versucht hätten. Deutschland hätte genügend Kalorien produzieren können, um seine Bevölkerung von Produkten zu ernähren, die in Deutschland erzeugt wurden, aber dafür hätte es Teile seiner Industrie, seiner Exporte und Deviseneinnahmen opfern müssen. Deutschlands Wohlstand hing vom Austausch mit dem britischen Empire ab, aber Hitler meinte, diese Struktur von Handelsbeziehungen könnte durch die Eroberung eines Imperiums auf dem Kontinent ergänzt werden, was London und Berlin auf eine Stufe stellen würde. Sobald es geeignete Kolonien erworben hätte, würde Deutschland seine industrielle Leistungsfähigkeit beibehalten und gleichzeitig die Nahrungsmittelabhängigkeit von britisch kontrollierten Seewegen auf das eigene imperiale Hinterland verlagern können. Ein hinreichend großes deutsches Imperium konnte sich selbst versorgen, eine «autarke Wirtschaft» werden. Hitler verklärte den deutschen Bauern nicht zum friedlichen Ackermann, sondern zum heroischen Bezwinger ferner Länder.

Die Briten musste man als «Rassenverwandte» und Erschaffer eines riesigen Imperiums respektieren. Der Plan war, durch das Netzwerk ihrer Macht zu lavieren, ohne eine Reaktion zu provozieren. Hitler glaubte, anderen Land wegzunehmen würde keinerlei Bedrohung für diese große Seemacht darstellen. Langfristig ging er von einem Frieden mit Großbritannien «auf der Grundlage der Aufteilung der Welt» aus. Er erwartete, dass Deutschland eine Weltmacht werden, ein «Entscheidungskampf mit England» aber vermieden werden könnte. Das war für ihn ein beruhigender Gedanke.

Beruhigend war auch, dass eine solche Veränderung der Weltordnung schon einmal gelungen und die Erinnerung daran noch präsent war. Für Generationen deutscher Imperialisten wie auch für Hitler selbst gab es ein Vorbild für die Kolonialisierung großer Landmassen: die Vereinigten Staaten von Amerika.

Amerika war für Hitler das lehrreiche Beispiel dafür, dass sich Bedürfnisse in Begehrlichkeiten verwandelten und diese Begehrlichkeiten aus dem Vergleich entstanden. Die Deutschen waren nicht nur Tiere, die Nahrung suchten, um zu überleben, und auch nicht nur eine Gesellschaft, die in einer unvorhersehbaren, britisch dominierten Weltwirtschaft nach Sicherheit strebte. Familien schauten auf andere Familien, bei den Nachbarn, aber dank der modernen Medien auch überall auf der Welt. Vorstellungen davon, wie man leben soll oder muss, entziehen sich Bezugsgrößen wie Überleben, Sicherheit oder sogar Bequemlichkeit, wenn die Lebensstandards vergleichbar und die Vergleiche international werden. «Die internationalen Beziehungen der Völker sind durch die moderne Technik und den durch sie ermöglichten Verkehr so leichte und innige geworden, dass der Europäer als Maßstab für sein eigenes Leben, ohne sich dessen oft bewusst zu werden, die Verhältnisse des amerikanischen Lebens anlegt».

Die Globalisierung brachte Hitler zum amerikanischen Traum. Hinter jedem imaginären deutschen Rassenkrieger stand eine imaginäre deutsche Hausfrau, die immer mehr wollte. In seinen schrilleren Momenten drängte Hitler die Deutschen, sich die Tiere zum Vorbild zu nehmen und sich nur auf das Überleben und die Reproduktion zu konzentrieren. Doch seine eigene, kaum verhüllte Angst war eine sehr menschliche, vielleicht sogar eine sehr männliche: die vor der deutschen Hausfrau. Sie war es, die die Latte des natürlichen Kampfes immer höher legte. Vor dem Ersten Weltkrieg, als Hitler noch jung war, hatte die Rhetorik des deutschen Kolonialismus mit der doppelten Bedeutung des Wortes «Wirtschaft» gespielt: Gemeint war sowohl der Haushalt als auch die Ökonomie. Den deutschen Frauen hatte man beigebracht, den Komfort mit einem Imperium gleichzusetzen. Und da Komfort immer relativ war, war die politische Rechtfertigung von Kolonien unerschöpflich. In den USA spricht man von «keeping up with the Joneses», wenn man die Vorstellung bezeichnen will, dass der Lebensstandard relativ ist und auf dem wahrgenommenen Erfolg anderer basiert. Wenn der Maßstab der deutschen Hausfrau Mrs. Jones und nicht Frau Müller war, dann brauchten die Deutschen ein Großreich, das mit dem amerikanischen vergleichbar war. Die deutschen Männer mussten an irgendeiner fernen Front kämpfen und sterben, ihre Rasse und den Planeten erlösen, während die Frauen ihre Männer unterstützten, indem sie die gnadenlose Logik des unablässigen Verlangens nach einem immer komfortableren Heim verkörperten.

Die unvermeidliche Präsenz Amerikas in deutschen Köpfen war der eigentliche Grund, warum die Wissenschaft in Hitlers Augen das Grundproblem der deutschen Rasse nicht lösen konnte. Selbst wenn Erfindungen den Bodenertrag verbesserten, würde Deutschland allein dadurch niemals mit den USA Schritt halten können. Technologische Errungenschaften gab es in beiden Ländern; unterschiedlich hingegen war die Quantität der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Daher brauchte Deutschland genauso viel Technologie wie die Amerikaner und genauso viel Land. Hitler erklärte, der permanente Kampf um Land sei ein Gebot der Natur, aber er erkannte auch, dass das Verlangen nach einem wachsenden relativen Komfort ebenfalls eine unablässige Mobilisierung erzeugen konnte.

Wenn das Urteil über den Wohlstand in Deutschland immer relativ war, ließ sich ein endgültiger Erfolg niemals erreichen. «Die Aussichten des deutschen Volkes sind trostlose», schrieb Hitler mit Bedauern. Doch auf die Klage folgte sogleich die Klarstellung: «Weder der heutige Lebensraum noch der durch eine Wiederherstellung der Grenzen von 1914 erreichte gestatten uns, ein Leben analog dem amerikanischen Volk zu führen.» Zumindest würde der Kampf fortdauern, solange die USA existierten, und das würde sehr lange sein. Hitler betrachtete Amerika als die kommende Weltmacht und die amerikanische Kernbevölkerung («der rassisch rein und unvermischter gebliebene Germane») als ein «Weltvolk», das wesentlich gesünder und jünger sei als die Deutschen, die in Europa geblieben waren.

Als Hitler Mein Kampf schrieb, stieß er auf das Wort «Lebensraum» und machte es sich für eigene Zwecke zunutze. In seinen Schriften und Reden brachte es die gesamte Vielfalt an Bedeutungen zum Ausdruck, die er dem natürlichen Kampf zuschrieb, von einem niemals endenden Kampf der Rasse ums nackte Überleben bis zum endlosen Krieg um das subjektive Gefühl, den weltweit höchsten Lebensstandard zu haben. Der Begriff kam als Entsprechung des französischen Ausdrucks biotope ins Deutsche. In einem eher sozialen als biologischen Zusammenhang drückt «Lebensraum» noch etwas anderes aus: das behagliche Zuhause, etwas, das dem «living room»...