Ralph Siegel - Die Autobiografie

von: Ralph Siegel

LangenMüller, 2016

ISBN: 9783784482361 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ralph Siegel - Die Autobiografie


 

München 1945 – Am Biederstein 7

Es war die Stunde Null. Am 30. September 1945 bin ich im Englischen Garten – in der damaligen Geisenhofer Klinik, der heutigen Parkklinik, auf die Welt gekommen, als Ralph Claus Peter Siegel, der Sohn von Rudolph Maria Siegel und Ingeborg Döderlein. Als ich im Leben landete, hatten die Menschen in München schon seit einem guten halben Jahr mit den Aufräumarbeiten nach dem gerade beendeten Krieg zu tun. Es gab da eine Menge Schutt wegzuschaffen, die Stadt wiederaufzubauen und das tägliche Leben zu meistern.

Ich hatte großes Glück, denn ich bin bereits ein »Friedenskind« und dem Irrsinn, dem die halbe Welt und auch meine Eltern ausgesetzt waren, knapp entkommen. Über 700 Mal hatten seit Januar 1945 in München die Sirenen geheult, die Menschen in die Keller und Bunker getrieben, bis schließlich alles vorbei war. 300 000 Ausgebombte lebten zwischen den Ruinen und die Stadt war Plünderungen ausgesetzt. Es herrschte Chaos in den ersten Tagen nach Kriegsende. Meine Eltern hatten das Kriegsende in Bayern erlebt: Mein Vater Ralph Maria Siegel, der eigentlich Rudolph hieß und sich den Vornamen Ralph selbst gegeben hatte, diesen sogar später im Reisepass eintragen hat lassen, und meine Mutter, die Operettensängerin Ingeborg Döderlein mit dem klingenden Kosenamen »Sternchen«, der sie ein Leben lang begleitet hat.

Ich bin also schon als Sohn eines Künstlerehepaars zur Welt gekommen, sozusagen als die übernächste Generation einer Künstlerfamilie. Mein Großvater Rudolf Siegel war im frühen 20. Jahrhundert auch schon Komponist, Schüler von Engelbert Humperdinck und lebte in Berlin. Er dirigierte später in Essen und landete schließlich in Krefeld als Generalmusikdirektor, Dirigent und Opernkomponist. Er bewegte maßgeblich die damalige musikalische Landschaft und sorgte besonders dafür, dass auch seine vier Kinder Ralph, Bruno, Bernhard und Vera einen musikalischen Lebensweg beschreiten konnten. Geld wurde damals in diesem Beruf weniger verdient, es sei denn, man hatte die großen Bühnen der Welt erobert und ginge in der »Berliner Oper«, der Mailänder »Scala« oder der »Metropolitan Opera« in New York ein und aus. Bescheidenheit war angesagt während der Zwanziger-, Dreißiger- und Vierzigerjahre und besonders, als der Wahnsinn der Nazizeit ausbrach. Irgendwann führten aber alle Wege meiner Eltern nach Berlin und im Endeffekt nach München. Seither sind wir mit der bayerischen Hauptstadt eng verbunden.

Ich wurde am letzten Tag im September geboren, im Sternzeichen Waage. Ich war 58 Zentimeter lang, acht Pfund schwer und hatte lange schwarze Haare. Da lag ich nun, ein Sonntagskind – in Kriegswindeln, die vielleicht sogar gewaschen werden mussten, um sie wieder zu verwenden. Meine Ankunft musste natürlich publik gemacht werden und mein Papi tat das auf seine Weise. Damit die Information nicht auf Deutschland beschränkt bliebe – er spielte eigentlich schon mit dem Gedanken, in die USA auszuwandern –, verfasste er folgende Anzeige:

SUBJECT: OUR FIRST SON

BETRIFFT: UNSER ERSTER SOHN

TO WHOM IT MAY CONCERN

AN ALLE UNINTERESSIERTEN

RALPH CLAUS PETER SIEGEL

FINALLY ARRIVED IN MUNICH SEPT. 30th 1945

ENDLICH ANGEKOMMEN IN MÜNCHEN 30. SEPT. 1945

THE MERRY PARENTS

DIE GLÜCKLICHEN ELTERN

Ingeborg Sternchen

Ralph Maria Siegel

Naturgemäß sind meine Erinnerungen an die frühen Jahre meines Lebens nicht besonders ausgeprägt, aber da Papi immer auch alles zu Papier gebracht hat, durfte ich erfahren, dass ich zwei Monate von Mami gestillt wurde, zum ersten Geburtstag Zwiebackbrei serviert bekam und mit einem Badeschwamm, einen Kamm und einem Kissen für den Kinderwagen beschenkt wurde. So weit, so dokumentarisch festgehalten, und Papi hat auch noch vermerkt, dass ich mich über die Geburtstagsgeschenke gefreut habe.

Es war sicher eine harte Zeit für alle – eine der vielen Entbehrungen, aber wir hatten Glück. Die Wohnung am Biederstein 7 hatte die Bombardierungen relativ glimpflich überstanden. Das Mauerwerk war stabil und auch der Kamin noch so gut in Schuss, dass der Rauch abziehen konnte und uns nicht einnebelte, wenn Papi versuchte, mit dem, was an Brennmaterial da war, Feuer zu machen. Manchmal ging er es radikal an und nahm Benzin zur Hand, um das nasse Holz zum Brennen zu bringen. Ein Glück, dass wir nicht in die Luft geflogen sind.

Jetzt suchten sie ein Plätzchen, wo der Krieg weniger Auswirkungen hinterlassen hatte, und fanden es in der kleinen Ortschaft Liedering bei Obing. Ich habe es immer als einen Wink des Schicksals empfunden, dass ein Dorf, in dessen Namen »Lieder« vorkam, uns Schutz bot. »Musik liegt in der Luft« – dieser Titel des Songs von Caterina Valente bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn man als Baby eines Musikerpaars in Liederinger Luft aufwächst … In der Tat war das kleine Liedering so etwas wie eine »Insel des Friedens«. Papi, der ja seit jeher ein Talent zum Häuserbauen hatte und Architektur zu seinen Leidenschaften zählte, stellte gemeinsam mit seinem Bruder Bruno in Liedering ein kleines Häuschen auf die Wiese. Vier Wände, vier Fenster und eine Tür, oben ein kleiner, ausgebauter Dachboden. Keine Ahnung, wo die beiden zu dieser Zeit das Baumaterial herhatten, aber das Häuschen stand und war unser Zuhause für die nächsten Jahre, denn München war in dieser Zeit dabei, sich mühsam aus dem Kriegsschutt wieder aufzurappeln. Papi war fast immer auf Tour und machte Musik für die Amerikaner. Als Gage gab es Lebensmittel und die Dinge des täglichen Bedarfs. Einmal, da brachte er 20 Orangen mit – die Gage dafür, dass er für die Amis swingte und die sich in der Fremde ein wenig wie zu Hause fühlen konnten. Aber dann, wenn er nicht bei uns war, was oft vorkam, war es Mami, die sich um unsere Versorgung kümmern musste. Mami klopfte bei den Bauern an und tauschte Wertgegenstände wie Silber und Porzellan oder Schmuck für Lebensmittel ein. »Mia hen koa onzgs Oa« (wir haben kein einziges Ei) hat sie oft genug zu hören bekommen, wenn die Bauern nicht zu tauschen gewillt waren, aber irgendwie gelang ihr es dann doch immer wieder, etwas auf den Tisch zu zaubern.

1946 entdeckte mein Vater in Augsburg-Göggingen das ehemalige Kurhaus. 1886 erbaut, hatte es schon damals eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Ein Theater und Tanzsaal, das den US-Streitkräften auch als Kino für die Truppen diente. Meinem Vater, den die Amerikaner ja von seinen vielen Auftritten her gut kannten und den sie immer wieder engagierten, erlaubten sie im Kurhaus wieder Theateraufführungen zu inszenieren, und mit der ihm angeborenen Leidenschaft produzierte er Operetten und darunter auch das »Weiße Rössl«. Statt Geld für Eintrittskarten brachten die Zuschauer Kohlestücke mit und damit wurde während der Vorstellungen eingeheizt.

Der Theaterbetrieb in Göggingen lief gut, war ein voller Erfolg und Papi hatte seine Bühne, aber es zog ihn bald wieder mit anderen Ideen nach München. Er wusste, dass eine Zeit kommen würde, wo Lieder und Texte, also Urheberrechte, auch eine Geschäftsgrundlage sein und Musikverleger gebraucht würden, die diese verwerteten. Er legte den Grundstein für die Siegel-Musikverlage in München, die sich dann ab 1948 richtig zu entwickeln begannen.

Ich war gerade mal so drei Jahre alt, als Mami mit mir zurück nach München zog – ins Untergeschoss der Wohnung am Biederstein 7. Im selben Haus wohnte auch die jüdische Familie Dudeltchik und ihre Tochter Sarah war meine erste Freundin und Spielkameradin. Sie war ein Jahr jünger als ich und wir trafen uns nahezu täglich im Garten hinter dem Haus. Später, wenn ich mich als Erwachsener an Sarah zurückerinnert habe, habe ich mir oft Gedanken darüber gemacht, wie es die Dudeltchiks geschafft hatten, in Nazideutschland zu überleben. Das Bewusstsein, dass Sarah Jüdin war und ihre Familie sehr gelitten hatte, fehlte mir als Kind ganz und gar. Sarah war meine Spielkameradin … das war wichtig, nicht die Religionszugehörigkeit. Was kümmert das schon einen vier Jahre alten Buben?

Meine Mami hatte ganz andere Probleme mit mir, denn ich wollte einfach keine Medizin einnehmen, wenn mal ein Schnupfen oder eine Kinderkrankheit wie Masern oder Milchzahnschmerzen bei mir auftraten. Ich aß auch wie alle Kinder keinen Spinat und eigentlich nur Kartoffelbrei. Das war die Antwort. Mami mischte alle nur notwendigen Medikamente in den Kartoffelbrei und mit meinem Lieblingsgetränk, dem Himbeersaft, ging es ebenso einfach – schwupps, war der kleine Sohn versorgt.

Nicht weit weg von unserem Wohnhaus gab es ein kleines Fleckchen Freifläche. Das Grundstück gehörte dem Herrn Huber, der ein Milchgeschäft führte, und Huber wiederum war ein Freund eines gewissen Herbert Koschel und dieser hatte eine kleine Holzbaracke in Berlin. Huber verpachtete das Grundstück an Herbert und gemeinsam mit meinem Vater karrten sie die Baracke von Berlin nach München. Das Holzhaus war ab dem Spätsommer 1948 die Zentrale der neu gegründeten »Ralph Maria Siegel-Musikverlage« und Herbert wurde zum »Geschäftsführer« ernannt. Die Lizenz, die notwendig war, um als Musikverleger tätig zu werden, stellten die Amerikaner aus. Herbert wohnte auch in dieser Baracke und alles ging damals eben noch ziemlich unkonventionell zu.

1949 wurde der Bayerische Rundfunk gegründet und aus dem ehemaligen Radio Munich wurde der BR. Der erste Intendant, Rudolf von Scholtz, erhielt von der amerikanischen Militärregierung in Bayern die Lizenzurkunde, die ihn zum...