Uni-Wissen Orientierungskurs Germanistik - Sicher im Studium Germanistik

von: Udo Friedrich, Martin Huber, Ulrich Schmitz

Klett Lerntraining, 2015

ISBN: 9783129391082 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Uni-Wissen Orientierungskurs Germanistik - Sicher im Studium Germanistik


 

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Zeichen – Regeln – Ordnung


1Zeichen


In FRANCIS FORD COPPOLAS Verfilmung von MARIO PUZOs Roman Der Pate (1972) wird eine kugelsichere Flak-Jacke, in die ein toter Fisch eingewickelt ist, bei der Corleone-Familie abgegeben. Clemenza, einer der Empfänger, bemerkt: „Das ist eine sizilianische Nachricht. Sie bedeutet, dass Luca Brasi bei den Fischen liegt.“ (Im englischen Original heißt es „sleeps with the fishes“ – also ermordet wurde). Wie ist es möglich, dass tote Gegenstände etwas ganz anderes bedeuten als sie selbst sind?

Dazu braucht es mindestens zwei Kommunikationspartner mit einer irgendwie gemeinsamen Geschichte, also einem gemeinsamen Hintergrund, vor dem das aktuell Gemeinte zu verstehen gegeben werden kann. Im Film steckt die Familie, die Luca Brasi hat strangulieren lassen, einen toten Fisch in dessen Jacke und kann davon ausgehen, dass die Gegenseite die Anspielung verstehen wird. Ein Gegenstand wird verwendet, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. In genau dieser Form geht das nur einmal, in dieser konkreten Situation. Wenn es gelänge, aus solchen ad hoc erfundenen Zeichen allgemeiner geltende Zeichen zu entwickeln, die unabhängig von einer speziellen Konstellation funktionieren, dann wäre Kommunikation allgemein möglich, auch jenseits von einzelnen Fällen und über persönliche, zeitliche und räumliche Entfernungen hinweg.

Eben das ist Menschen gelungen. Im Laufe ihrer langen Geschichte haben sie ganze Universen von Zeichen erfunden – so viele, dass manchmal behauptet wird, wir deuteten alles als Zeichen, und auch die Wissenschaften seien nichts anderes als hoch entwickelte Künste zur Konstruktion und Deutung von Zeichen (sei es der Natur, sei es der Gesellschaft). Zeichen ist alles, das für anderes steht als sich selbst. Wenn jemand einen Ausdruck als Inhalt versteht, gibt oder liest er ein Zeichen.

Das bilaterale Zeichenmodell

Davon gibt es drei Arten.

1. Ikonische Zeichen (wie realistische Fotos und Abbildungen) sind dem, was sie zeigen, strukturell ähnlich.

2. Indexikalische Zeichen (wie ein pfeifender Teekessel, der anzeigt, dass Wasser kocht) stehen in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem, was sie anzeigen.

3. Symbolische Zeichen (wie das Vorfahrt-achten-Schild in der Nebenstraße) hingegen erhalten ihre Bedeutung durch konventionelle Zuschreibung.

Der tote Fisch in der Jacke hat von allen drei Zeichenarten etwas, und das macht die Botschaft in diesem Falle leichter zu durchschauen. In gewisser Hinsicht ist der Fisch in der Jacke, so makaber das wirkt, dem ermordeten Luca Brasi ähnlich (ikonisch); gerade darin steckt eine zusätzliche Beleidigung. Die Jacke selbst weist keine Schusslöcher auf; der Empfänger kann also schließen, dass ihr Inhaber nicht erschossen, sondern auf andere Art umgebracht wurde (indexikalisch). Beides zusammen reicht aber nicht zur Entzifferung der Botschaft aus. (Es brauchte sich ja überhaupt nicht um ein Zeichen zu handeln, sondern lediglich um einen ebenso geschmackwie bedeutungslosen schlechten Scherz.) Der Absender geht vielmehr zu Recht davon aus, dass der ihm bekannte Empfänger in derartige „sizilianische“ Gepflogenheiten der Kommunikation eingeweiht ist (symbolisch).

Name

Verhältnis zwischen Ausdruck und Inhalt

Beispiel

Ikon

strukturell ähnlich

Porträt ähnelt dem Vorbild

Index

ursächlich aufeinander bezogen

Schmerz zeigt Krankheit an

Symbol

konventionell geregelt

Wörter bezeichnen Vorstellungen

Die drei Arten von Zeichen

Menschliche Sprache operiert mit symbolischen Zeichen. Sprachliche Zeichen, zum Beispiel das Wort Nachricht, sind dem, was sie bezeichnen, weder strukturell ähnlich noch ursächlich verbunden. Wir verstehen sie nur deshalb, weil wir gemeinsam gewohnt sind, diesem bestimmten Ausdruck praktischerweise einen mehr oder weniger bestimmten Inhalt zuzuordnen. Clemenzas Hinweis „Das ist eine sizilianische Nachricht“ verbindet sprachliche Zeichen, die innerhalb einer Sprachgemeinschaft durch stillschweigende Übereinkunft (Konvention) allgemein anerkannt werden, zu einem Zeichenkomplex, der eben aufgrund solcher Übereinkunft dechiffriert, also verstanden werden kann, weil Sender und Empfänger sozusagen über den gleichen Schlüssel verfügen. Wer Deutsch beherrscht, hat diesen Code per Spracherwerb gelernt.

So gesehen ist das, was wir deutsche Sprache nennen, eine Menge von Zeichen und Regeln zur Benutzung dieser Zeichen, welche die Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen im Laufe ihrer Kommunikationsgeschichte erarbeitet und sozusagen stillschweigend vereinbart haben, um sich untereinander verständigen zu können. Germanistik untersucht, wie sie das tun. Dabei kümmert sie sich auch um die dreierlei Beziehungen, in denen jedes Zeichen steht:

▶ zu anderen Zeichen (syntaktisch),

▶ zu dem, was sie bedeuten (semantisch), und

▶ zu Zeichenbenutzern, die sie verwenden (pragmatisch).

Name

Beziehung des Zeichens

Beispiel

syntaktisch

zu anderen Zeichen

„Wir“<–>„protestieren“ [beachte den Plural]

semantisch

zum Inhalt

[die Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt]

pragmatisch

zu Sprechern und Hörern

[z.B. Entschlossenheit, Ironie, Aufforderung]

Die drei Relationen von Zeichen

2Regeln


Germanistik ist die Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur. Das ist ein weites Feld. Ungefähr hundert Millionen Menschen verkehren täglich in deutscher Sprache. Sie regeln damit ihr gesellschaftliches Zusammenleben, sie drücken sich aus, wollen verstanden werden und Mitmenschen beeinflussen. Sie tun das in Wort und Schrift, in unterschiedlichsten Gesprächs- bzw. Textsorten, Kommunikationsformen und Medien. Und viele von ihnen erfreuen sich daran, dass mit sprachlichen Mitteln Kunstwerke geschaffen wurden und werden: Sie lesen, hören und schreiben Gedichte, Erzählungen, Romane, gehen ins Theater, schauen Filme an oder hören Lieder.

„Hi Svenja, mein Rechner is grad kaputt – kannze mir ma das Lied da downloaden?“ Das ist so ein Beispiel. Zwei Menschen in einer Situation. Einer hat ein Problem und bittet den anderen um Hilfe. Ohne Sprache geht das nicht – oder sagen wir: nur mit unendlich viel mehr Aufwand an Mühe, Zeit und Nerven. Nehmen wir an, Svenja sei guter Laune und begänne zu rappen: „Kannze mirma, kannze mirma, kannze mirma das Lied da da da da da da downloaden?“ Schon wäre der banale alltägliche Text sprachspielerisch ästhetisiert, und wir befänden uns auf dem Weg zu „schöner“ Literatur.

Sprechen kann jeder, und Literatur lesen und ein bisschen machen eigentlich auch. Wozu braucht man da Wissenschaft? Wissenschaft sammelt, systematisiert und erzeugt Wissen. Sie dient der nachprüfbar kontrollierten Verarbeitung unserer Erfahrung mit der Welt. Wissenschaftler artikulieren gezielte Erfahrungen im Umgang mit der Welt, sammeln und ordnen sie, machen sie bewusst, allgemein zugänglich und vielleicht wiederholbar; und sie bemühen sich, sie zu verstehen und für praktisches Handeln verfügbar zu machen. Auf diese Weise entstehen neues Wissen und ein neuer Zugang zur Wirklichkeit, der uns ohne Wissenschaft verborgen bliebe. Die Welt hat nicht auf die Wissenschaft gewartet. Sie funktioniert auch so. Doch mit Wissenschaft kommen wir ihrer Funktionsweise auf die Spur und können sie besser beeinflussen. Fraglos gilt das für Physik, Chemie, Biologie, Medizin und wohl auch für Mathematik, Psychologie, Soziologie und manch andere Wissenschaften. Aber für ganz banale Alltagsverrichtungen wie sprachliche Kommunikation? Und für so einzigartige Kunstwerke wie GOETHEs Faust oder CELANs Todesfuge?

Betrachten wir unsere banale Alltagsszene. In Wirklichkeit kommt diese Äußerung außer in diesem Lehrbuch natürlich nirgendwo so vor. In der konkreten Situation wurde sie ja nicht geschrieben, sondern gesprochen. Tom hat mit seinen Sprechwerkzeugen Schallwellen so geformt, dass Svenja, weil sie Deutsch...