Hüter des Erbes

von: Lynn Austin

Francke-Buch, 2015

ISBN: 9783868278491 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,99 EUR

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Hüter des Erbes


 

In der Zitadelle von Susa, Persien
Frühling 473 v. Chr.

Haman lief auf dem Dach der Zitadelle auf und ab und wartete darauf, dass die Hofastrologen ihre Arbeit beendeten. Er hasste diese Machtlosigkeit. Sein Schicksal sollte in seinen eigenen Händen liegen und nicht von bloßen Lichtpunkten bestimmt werden, die am mitternächtlichen Himmel funkelten. Dieses verschwörerische Getuschel der Sterndeuter in ihren nachtschwarzen Gewändern sollte nicht über seine Zukunft entscheiden – das sollte er selbst tun. Aber die Bitte, die er an König Xerxes, den obersten Herrscher des persischen Reiches, richten wollte, war viel zu wichtig, um sie dem Glück oder dem Schicksal zu überlassen.

Haman blieb an der Brustwehr stehen und blickte auf die Wachen hinunter, die am Tor des Königs auf ihren Posten standen. Seine fixe Idee hatte an diesem Tor begonnen, als ein unverschämter Jude nicht bereit gewesen war, sich vor ihm zu verneigen. Die ganze Welt verneigte sich vor Haman, jetzt, wo er einen Ehrenplatz innehatte, der ihn über alle Edelleute des Königs erhob – nun, da er der zweitwichtigste Mann im ganzen Reich geworden war. Er hatte sein ganzes Leben lang im Dienst des Königs gestanden, aber trotz allem, was Haman erreicht hatte, weigerte der Jude Mordechai sich, ihm zu huldigen.

„Haman, Herr …?“ Er drehte sich um, als er die Stimme des obersten Astrologen hörte. „Wir haben eine Antwort für Euch, mein Herr.“

Haman begab sich langsam zu den wartenden Sternenkundigen. Er wollte nicht, dass sie sahen, wie dringlich die Angelegenheit für ihn war und welche Macht sie über ihn hatten. „Was sagen die Sterne heute Nacht?“, fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Morgen wird ein höchst günstiger Tag für Euch sein, Herr. Wir sehen keinen Widerstand des Himmels Euren Plänen gegenüber, was auch immer Ihr zu tun gedenkt. Alle Himmelskörper stehen so, dass es Euch dient.“

Haman hatte Mühe, seine Erleichterung und seinen Triumph zu verbergen. Auf diese Nachricht wartete er seit Wochen. Endlich würde er seinen Plan in die Tat umsetzen können. „Gut. Ich habe heute noch eine Aufgabe für euch. Werft das Los für mich und wählt einen günstigen Monat in der Zukunft und dann einen Tag in diesem Monat.“

„Einen Tag wofür, Herr?“

„Das braucht euch nicht zu interessieren. Tut es einfach. Jetzt gleich.“

Haman folgte den Astrologen die Treppe zu ihrem düsteren Arbeitsplatz hinunter. Er sah zu, wie ein Lehrling den Lederbeutel mit zwölf markierten Tontafeln bereitlegte, einen für jeden Monat, und dann einen zweiten Beutel mit dreißig Tafeln, die für die Tage standen. Natürlich mussten die vorgeschriebenen Beschwörungen gemurmelt werden, bevor sie das Los warfen, und Haman konnte seine Ungeduld kaum bezähmen, während er dem sinnlosen Gebrabbel des obersten Zauberers zuhörte. Die Tafeln klackerten wie Knochen, als der Sterndeuter den Beutel schüttelte. Er schob seine Hand hinein und zog eine Tontafel heraus. „Es ist die Zwölf, mein Herr“, sagte er und hielt die Tafel hoch, sodass Haman sie sehen konnte. „Also der Monat Adar.“

Haman nickte mit grimmiger Miene. Bis zum Adar waren es noch elf Monate! Aber er wollte seinen Plan jetzt umsetzen und nicht so lange verschieben. Während er darauf wartete, dass der Magier die zweite Zauberformel murmelte und das Los warf, um den Tag des Monats zu bestimmen, überlegte Haman, dass eine Verzögerung vielleicht doch gut war. Das bedeutete, dass sein Erlass Zeit hatte, in jeden Winkel seines Reiches zu gelangen, in alle 127 Provinzen. Genügend Zeit für Haman, die Hinrichtung seiner Feinde vorzubereiten.

Mit jedem Tag und jeder Gelegenheit, bei der dieser sture Jude ihm eine Verbeugung verweigert hatte, war Haman wütender geworden, bis er beschlossen hatte, nicht nur diesen Mann zu töten, sondern jeden Juden in seinem Reich. Haman wusste, wer Mordechais Leute waren – die Feinde seines eigenen Volkes der Amalekiter. Der Hass, den sie füreinander hegten, ging auf den Leib einer Mutter zurück, in dem Zwillingsbrüder um die Herrschaft gerungen hatten. Der jüngere Zwilling, Jakob, hatte Hamans Vorfahren Esau, dem älteren Zwilling und rechtmäßigen Erbe, alles gestohlen. Es war Zeit, dass Hamans Volk die Nachkommen Jakobs, die Juden, vom Erdboden vertilgte und sich wieder zurückholte, was ihm gehörte.

Der Zauberer hielt eine zweite Tafel hoch. „Der dreizehnte Tag, Herr.“

Haman konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Seine Glückszahl. Er war an einem dreizehnten Tag geboren worden und an einem dreizehnten Tag an die Macht gekommen. Ja, der dreizehnte Tag im Monat Adar passte ihm gut. „Danke“, sagte er mit einem Nicken und verließ das Studierzimmer.

Haman begab sich gar nicht erst nach Hause in sein Schlafgemach und zu seiner Gattin Zeresh. Er würde ohnehin nicht schlafen können. Stattdessen ging er in die Ratskammer des Königs und setzte sich, um seinen Erlass zu formulieren. Auch wenn die Sterne günstig standen, musste Haman sorgfältig planen und seine Worte klug wählen. Jeder Jude sollte sterben – Junge und Alte, Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge. Aber Haman konnte einen so kühnen Plan nicht geradeheraus verkünden. Er musste sich verschleierter Unterstellungen und versteckter Andeutungen bedienen, um den König dazu zu bringen, dass er selbst zu diesem Schluss kam. Er musste ihn an diesen Punkt führen, wie ein Jäger einen sorgfältig platzierten Köder benutzt, um seine Beute in die Falle zu locken.

Als die Kammerdiener nach Tagesanbruch eintrafen, befahl Haman ihnen, den Thronsaal vorzubereiten, die Fenster zu öffnen, um die frische Frühlingsluft hereinzulassen, Kohlenbecken zu entzünden, um die Kälte des Steinfußbodens zu vertreiben, Fackeln zu besorgen und die Kissen aufzuschütteln. Alles musste perfekt sein. Haman stand vor einem polierten Bronzespiegel, während er wartete, und probte eine Miene, die tiefe Besorgnis ausdrückte, ohne das Hochgefühl zu verraten, das er empfand.

Zu gegebener Zeit erschien König Xerxes, umringt von Dienern und Pagen, um seinen Platz auf seinem Elfenbeinthron einzunehmen. „Eure Majestät – möge Euer Leben ewig währen!“, sagte Haman und verneigte sich tief vor ihm. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, nahm Haman auf seinem Sessel zur Rechten des Königs Platz. „Ich hoffe, Ihr habt in der Nacht wohl geruht, Majestät?“

Xerxes machte eine ungeduldige Handbewegung, als wollte er sagen, seine Schlafgewohnheiten seien nicht von Bedeutung. „Welche Geschäfte müssen wir heute Morgen erledigen, Haman? Wie viele Bittsteller?“

„Ein ganzer Raum voll, Eure Majestät. Aber bevor wir beginnen, würde ich, wenn ich darf, gerne unter vier Augen mit Euch über eine Angelegenheit sprechen, die mir große Sorgen bereitet. Es geht um die Stabilität und den Frieden in Eurem ganzen Reich.“

„Das klingt sehr ernst. Natürlich kannst du sprechen.“

Haman wartete, während die Bediensteten davoneilten, und spürte, wie sein Herz hämmerte. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass es ein bestimmtes Volk gibt, das über die Provinzen Eures Reiches verteilt ist und dessen Bräuche sich von denen aller anderen Untertanen unterscheidet. Sie machen mir Sorgen, Majestät, weil sie die Gesetze des Königs nicht beachten. Es ist nicht im Interesse Eures Reiches, sie zu dulden.“

„Haben sie offen rebelliert?“

„Noch nicht, aber die Gefahr ist sehr groß, weil sie sich nie so in das Reich eingefügt haben, wie die anderen Völker in Eurem Reich es tun. Sie verstehen sich überhaupt nicht als Teil Eures Königreiches, sondern bestehen beharrlich darauf, ihre Identität und ihre Bräuche zu bewahren. Besonders beunruhigend ist es, dass sie sich weigern, die Götter unseres erhabenen Reiches anzubeten.“

Der König knurrte ungehalten. „Sie weigern sich, sagst du?“

„Ja. Selbst wenn man ihnen mit Strafen oder gar dem Tod droht. Dürfen wir es riskieren, die persischen Götter zu verärgern? Ihren Zorn auf uns zu ziehen?“

„Natürlich nicht.“

„Es hat keinen Vorteil, diese Leute als Untertanen zu behalten. Der Nutzen, den sie bieten, kann den Schaden, den sie verursachen, nicht aufwiegen.“ Haman zögerte und beobachtete den König, wobei er versuchte, jede Geste und jeden Gesichtsausdruck zu deuten.

„Was würdest du empfehlen?“, sagte Xerxes nach einer Weile.

Haman wischte sich unauffällig die feuchten Hände an seinem Gewand ab. „Wenn es dem König gefällt, könnte ein Erlass verkündet werden, der die Vernichtung dieser potenziellen Bedrohung anordnet, damit diese Menschen Euch und Eurem Reich nicht mehr schaden können. Ich halte die Gefahr, die von ihnen ausgeht, sogar für so groß, dass ich bereit bin, zehntausend Talente Silber aus meinem eigenen Vermögen in die königliche Kasse zu geben, um die Männer, die den Erlass ausführen, zu bezahlen.“

„Das ist eine Menge Silber, Haman. Sind diese Leute wirklich so gefährlich?“

„Das glaube ich, Herr. Vor allem, weil sie sich über Euer Reich ausgebreitet haben wie eine tödliche Plage, die sich vermehrt und Zerstörung bringt.“

Der König starrte auf den Boden und spielte mit dem Siegelring, den er am Finger trug. Haman hielt die Luft an und überlegte, was er sagen sollte, falls Xerxes Beweise für diese Anschuldigungen verlangte oder den Namen dieser gefährlichen Bevölkerungsgruppe wissen wollte. Aber die Sterne standen günstig, sagte Haman sich. Er würde gewinnen.

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