Nebel im August - Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa

von: Robert Domes

cbt Jugendbücher, 2008

ISBN: 9783894804855 , 352 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Nebel im August - Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa


 

1.
Sanftes Schaukeln, fast wie in einer Wiege. In Ernsts Ohren das Singen der Räder und der Takt, den die Hufe machen. Helles Licht wie Zuckermilch in der Luft. Die Haferfelder riechen nach Kraft und Großwerdenwollen. Ernst kann sie wachsen hören, sie knistern und wispern beim Strecken, und wenn man die unreifen Körner in den Mund steckt – Mutter sagt, das darf man nicht, weil man sonst krank wird, aber er tut’s trotzdem manchmal -, schmecken sie nach weichem Teig und Wärme und Regen.
Die Haferstängel werden bewacht von Mohn, ein roter Gürtel um das Feld, sie passen auf, dass niemand sie beim Wachsen stört. Ernst schaut hinten aus der halb offenen Plane. Das Feld hüpft und tanzt vor seinen Augen, er kann die Kieselsteine hören, sie halten die Luft an und stöhnen, wenn die harten Wagenräder über sie drüberrollen, und dann, wenn alles vorbei ist, atmen sie aus und seufzen leise.
Malchen und Nanna schlafen, sie sind noch klein und müssen viel schlafen, weil das Herumtollen und Schreien so anstrengend ist. Mutter schläft auch. Ihr geht es nicht gut, sie hat einen dicken Bauch und sieht krank aus. Aber sie jammert nicht, Mutter hat noch nie gejammert.
Ernst ist schon groß, nicht so groß wie Vater – der sitzt vorne und ist so stark, dass er mit einer Hand das Pferd halten kann -, aber viel größer als Malchen und Nanna. Ernst wird bald vier.
Anna ist die Kleinste, ist gerade ein Jahr alt geworden. Sie heißt so wie Mutter und hat schon jetzt dieselben Haare, noch nicht so lang, aber genauso dunkelbraun und dicht. Und sie hat dieselben großen braunen Augen, mit denen sie ständig neugierig alles untersucht. Alle nennen sie Nanna, weil sie zu sich selbst Nanna sagt. Meistens krabbelt sie durch die Gegend und frisst alles Mögliche, was sie am Boden findet, und Ernst muss es ihr aus dem Mund pulen.
Amalie ist zwei und sie plappert die ganze Zeit vor sich hin. Sie wird Malchen genannt, weil das schöner klingt als Amalie. Sie hat die blonden Haare vom Vater und das Näschen von Mutter bekommen. Wenn sie geht, ist ein Beinchen langsamer als das andere, irgendwas ist schief, sie watschelt und wackelt dabei mit dem Kopf. »Die Hüfte«, sagt Mutter, »aber das verwächst sich.« Trotzdem ist Malchen die Lustigste von allen. Wenn sie lacht, kann keiner mehr böse sein.
Ernst schafft meistens nur ein Grinsen, oft nicht mal das. »Das hat er von seinem Großvater«, sagt Mutter, »das Melancholische.« Deshalb hat er auch den Namen von Großvater, Ernst. Aber von ihm sprechen sie nicht oft, weil er die Großmutter mit neun Kindern hat sitzen lassen und mit einer anderen Frau weggegangen ist. Die Onkel und Tanten sagen alle, wenn sie den Jungen sehen: »Ganz der alte Lossa, die gleiche breite Nase und diese großen Elefantenohren.« Ernst kennt den Großvater nur von einem Foto und findet, dass er ihm überhaupt nicht ähnlich ist. Der Alte schaut streng und mürrisch drein. Direkt unter der Nase hat er ein schmales Bärtchen, was jetzt Mode ist, weil es der Führer* hat, der auf allen Plakaten zu sehen ist. Ernsts Vater findet es scheußlich, er mag den Führer nicht und deswegen rasiert er sich auch immer ganz gründlich.
Ernst macht sich Sorgen wegen seiner Ohren. Täglich prüft er, ob sie größer geworden sind. »Wenn die weiter wachsen, sehe ich wirklich mal aus wie ein Elefant und werde im Zirkus herumgezeigt.« Und dann zieht auch noch sein Vater dran herum, wenn er was angestellt hat. Er wünschte, er hätte auch so kleine Ohren wie Nanna und Malchen, oder lange Haare, die die Ohren verdecken. Aber seine Haare müssen immer ganz kurz sein wegen der Läuse. Überhaupt wäre er manchmal lieber ein Mädchen. Die beiden dürfen immer bei Vater auf dem Schoß sitzen, und er lässt ihnen alles durchgehen, während es bei ihm gleich was setzt, wenn er frech ist. Dafür ist er der Große, sagt Mutter immer, und dann lächelt sie, wie nur sie lächeln kann, ganz allein mit den Augen macht sie das, dunkelbraunes Knopffunkeln, und das ist fast so schön wie Streicheln. Ernst ist der Große, er passt auf die beiden Mädchen auf, damit sie nicht weglaufen oder Erdklumpen in den Mund stecken oder unter dem Pferd herumkriechen oder ihre Hände ins Feuer strecken, er darf sogar manchmal vorne auf dem Bock sitzen und die Zügel halten.
Mutter sagt, Ernst ist ein Geschenk, weil er eine Woche nach ihrem Geburtstag auf die Welt kam. Sie wurde zwanzig und er war praktisch ihr verspätetes Geburtstagsgeschenk. Das war vor vier Jahren, 1929. Ein schlechtes Jahr, ein armes Jahr, in dem die Geschäfte des frisch verheirateten Paares mehr als lausig waren. »Das einzig Gute warst du, Ernstl«, erzählt Mutter immer, »ein Fingerzeig Gottes, ein Glücksstern.« Weil genau an ihrem Geburtstag damals in Amerika der Schwarze Freitag* war und alle Angst hatten. »Doch dann kamst du«, lächelt Mutter, »und wir dachten nicht mehr an die Angst, sondern sagten, du bist ein Zeichen, dass es jetzt wieder aufwärtsgeht.«
Von Amerika weiß Ernst nur, dass es sehr weit weg ist und dass es dort Indianer gibt. Er hat keine Ahnung, was ein schwarzer Freitag ist, vielleicht hat es an dem Tag in Amerika Kohlen geregnet oder die Sonne ging nicht auf. Ernst wurde am 1. November geboren, an Allerheiligen, wenn überall für die Heiligen und die Verstorbenen Kerzen angezündet werden. »Du hast eine große Seele«, sagt Mutter, wenn sie von seiner Geburt erzählt.
»Was ist das, eine Seele?«, fragte Ernst einmal.
Sie legte ihm die Hand auf die Brust und sagte: »Deine Seele ist da drin, und sie sorgt dafür, dass du mutig und fröhlich und stark und lieb bist. Und wenn du dich fürchtest oder traurig bist und es ganz dunkel um dich herum ist, dann brauchst du nur deine Hand da drauflegen und dann kannst du das Licht spüren, das in dir ist und das niemals ausgeht.«
»Und wenn ich tot bin?«
»Auch dann nicht«, sagte Mutter, »dann fliegt deine Seele in den Himmel.«
Ernst stellt sich seitdem seine Seele vor wie einen großen weißen Ballon, der seine ganze Brust ausfüllt und warm leuchtet wie ein Lagerfeuer.
 
Vor vier Wochen, nachdem der letzte Schnee geschmolzen war, ist die Familie in Augsburg losgezogen. Christian Lossa beschloss, es sei nun wieder Zeit, auf Reisen zu gehen. Er nahm den großen Koffer und die Taschen und packte sie voll mit Stoffen und Bändern, Knöpfen und Hosenträgern, Zwirn, Schnürsenkeln und vielen anderen Dingen. Als seine Frau das sah, begann sie auch gleich zu packen. Christian war nicht begeistert. »Ob das wohl gut ist in deinem Zustand?«
»Ich halte es in Augsburg nicht mehr aus, ich muss raus aus dieser stinkenden Siedlung, weg von den Fabriken und matschigen Hinterhöfen«, sagte sie, immer wieder von Husten unterbrochen.
»Und was wird mit den Kindern? Du weißt, wie anstrengend es auf Wanderschaft sein kann.«
Vor Aufregung bekam Anna Lossa einen Hustenanfall und ihr Mann musste eine Weile auf die Antwort warten. »Christian«, begann sie. Immer wenn sie zu ihm Christian sagt, weiß er, dass sie es ernst meint. »Christian, mach dir mal keine Sorgen um mich und die Kinder, die haben es auf der Straße besser als in diesem Loch. Meinst du, ich will hier versauern, während du wie ein Lackaffe um die Hausfrauen herumschwänzelst.«
Christian sah ein, dass es besser war, darauf nichts zu sagen. Er zog die Augenbrauen hoch, schnaufte einmal tief durch und packte weiter. Ernst hätte seine Mutter dafür küssen können, dass sie aus der Stadt rauskamen, aber das wäre für seinen Vater wohl zu viel gewesen. Wahrscheinlich hat der Vater nur Ja gesagt, weil sie diesmal nicht mit dem Handkarren losgezogen sind, sondern einen richtigen Wohnwagen mit einem Pferd haben. Wagen und Pferd hat ihnen Tante Betti geliehen.
Von Augsburg ging es zuerst nach Ulm. Und jetzt über die Schwäbische Alb nach Buchau zu Annas Eltern, den Angers. Ulm war schön, weil der Vater ein gutes Geschäft gemacht hat. Er hat hinten auf den Wagen ein stinkendes schwarzes Fass gestellt und sich die Hände gerieben, obwohl es schwer war und stank, und er sich die Hose mit Öl versaut hat. Mutter hatte nur die Augen verdreht, als er mit dem Ding ankam, aber er hat mit der Zunge geschnalzt, als hätte er einen Schweinebraten vor sich. »Feinstes Motoröl – so etwas kriegst du heute fast nicht mehr, was meinst du, wenn wir das literweise in den Dörfern verkaufen, die reißen es uns aus der Hand.«
Mutter hat ihn fragend angeschaut und eine Handbewegung gemacht, die Ernst nicht verstand, Vater aber sehr wohl.
»Wo denkst du hin, Anna, so was mach ich doch nicht, sagen wir mal, es ist ein Geschenk, unter Freunden.«
Da musste sie husten und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. »Ich hoffe nur, dass du recht hast und dass deine … Freunde es sich nicht anders überlegen und wir Ärger bekommen. Und ich hoffe, dass wir den Gestank bald wieder los...