Klinische Psychologie und Psychotherapie - Ein integratives Lehrbuch

von: Cord Benecke

Kohlhammer Verlag, 2014

ISBN: 9783170249691 , 727 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 43,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Klinische Psychologie und Psychotherapie - Ein integratives Lehrbuch


 

2 Historische Entwicklung der Klinischen Psychologie


Psychische Störungen existieren wohl schon solange es Menschen gibt. Die Erklärungen dieser Phänomene wechselten allerdings drastisch. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die Historie von Konzepten zur Erklärung von psychischen Störungen sowie die entsprechenden Behandlungsmethoden gegeben werden. Die Darstellung folgt im Wesentlichen der Gliederung von Davison et al. (2002), einerseits gekürzt, andererseits um etliche Aspekte ergänzt. Eine schöne »Kulturgeschichte« psychischer Störungen und deren »Behandlung« findet sich in Nissen (2005)4.

Dämonologie

Das Grundmuster des dämonologischen Störungsmodells ist folgende Vorstellung: Ein »fremdes« Wesen ergreift »Besitz« von einer Person und verursacht die psychische Störung.

Im alten Babylon gab es für jede Krankheit einen eigenen Dämon; der Dämon »Idta« war für »Wahnsinn« zuständig. Auch der Teufel hat eine lange Tradition: Jesus heilt einen Mann mit »unreinem Geist«, indem er den Teufel austreibt und in eine Herde Schweine jagt – die Besessenheit geht auf die Tiere über und sie stürzen sich ins Meer (Marcus 5, 8–13)5. Dämonenaustreibung geschah üblicherweise mittels ausgefeilter Gebetsriten, Lärmritualen, übel-schmeckendem Gebräu, oder drastischer: Auspeitschen oder Nahrungsentzug, um den Körper für den Dämon/Teufel »unbewohnbar« zu machen.

Noch heute gibt es offizielle Exorzisten in der katholischen Kirche. Lange Zeit galt Anneliese Michel aus Klingenberg als der letzte offiziell durchgeführte Exorzismus in Deutschland (Wolff 2006; Goodman & Siegmund 2006). 2008 wurden allerdings weitere Fälle bekannt: Im Erzbistum Paderborn beispielsweise habe es zwischen 2000 und 2008 laut Bistumssprecher 18 ernstzunehmende Anfragen von Menschen gegeben, die glaubten, vom Teufel besessen zu sein; in drei Fällen wurde ein Exorzismus durchgeführt. Voraussetzung sei, dass die Prüfung durch einen Pastoralpsychologen und einen Psychiater das Fehlen einer psychischen Störung bestätigt, dann werde die »Liturgie der Befreiung« in Auftrag gegeben, d. h. die Austreibung des Bösen durch einen Exorzisten. Exorzismus sei in Frankreich und Italien, vor allem aber in Afrika und Lateinamerika deutlich häufiger als in Deutschland6.

Aber schon früh gab es auch deutlich nettere Behandlungsformen. Im ägyptischen Tempel des Imhotep (Gott der Heilung) war die wichtigste Therapie der Schlaf im Tempel, auch die künstlerische Betätigung der Kranken wurde als heilend betrachtet. In Griechenland wurden die Tempel des Asklepios (griechischer Gott der Heilkunst) in der Nähe von Heilquellen oder auf Bergen errichtet; auch hier war der Tempelschlaf eine wichtige Methode: den Kranken erschien Asklepios im Traum und erteilte Rat; dazu gab es Bäder, Diät und Körperübungen. Wenn das alles nichts half, wurden die Befremdlichen allerdings auch schon mal mit Steinen aus dem Tempel gejagt.

Somatogenese I

Allgemein gehen somatogenetische Erklärungen von folgender Grundannahme aus: Eine Störung im Soma verursacht die Störung des Erlebens und Verhaltens.

Hippokrates (460–377 v. Chr.) gilt als Begründer der modernen Medizin. Er absolvierte seine Ausbildung im berühmten Asklepios-Tempel von Kos. Hippokrates trennte die Medizin von Religion und Magie. »Seelische Verwirrungen« seien nicht Strafe der Götter, sondern hätten natürliche Ursachen, wahrscheinlich Störungen im Gehirn als Sitz des Intellekts und der Gefühle. Hippokrates unterschied drei Kategorien psychischer Erkrankungen: Manie, Melancholie, Gehirnfieber (Phrenitis). Er lieferte differenzierte Beschreibungen noch heute gültiger Erkrankungen (wie Epilepsie, Alkoholsucht, Paranoia etc.). Als zentrale Ursachen sah er Ungleichgewichte der vier »Säfte« (Blut, schwarze Galle, gelbe Galle und Schleim): so seien Trägheit/Dummheit durch zu viel Schleim (Phlegma) verursacht, Melancholie durch zu viel schwarz Galle, Reizbarkeit/Ängstlichkeit durch ein Zuviel an gelber Galle, ein launisches Temperament durch zu viel Blut.

Frühmittelalter und Mittelalter

Mit dem Niedergang des römischen Reiches gewann die Kirche und das Papsttum an Einfluss – die klassische Kultur wurde vom christlichen Mönchstum mit seiner Missions- und Bildungsarbeit ersetzt. Die Natur galt als Spiegel des göttlichen Willens und damit als der menschlichen Einsicht nicht zugänglich. Daher gab es keinen Platz für wissenschaftlich-systematische Beobachtungen nach Art der Griechen. Entsprechend bestanden »Behandlungen« im Wesentlichen aus Gebeten oder Berührungen mit Reliquien. Andere Formen von Heilkunst galten als »Hexenkunst«, die der Allmacht Gottes zuwider liefen. Kurzgefasst gab es eine Gleichsetzung von Heilkunst = Hexenkunst = Teufelswerk. In diesem Zuge wurden dann auch psychische Erkrankungen wieder als Teufelsbefall betrachtet – die Rückkehr der Dämonologie.

Gewissermaßen das »Manual« zur Hexenbekämpfung erschien 1486 mit dem Malleus Maleficarum (»Der Hexenhammer«) von den Dominikanermönchen Heinrich Kramer und Jakob Sprenger, in dem die konstitutionelle Anfälligkeit von Frauen für Zauber, Magie und Teufelspakte dargelegt wird. Insbesondere die Sexualität der Frauen sei sehr gefährlich, und die Männer seien ständig in Gefahr, diesem üblen weiblichen Zauber zum Opfer zu fallen. Entsprechend liefert das Werk gewissermaßen Diagnosekriterien zum Erkennen von Teufelsbefall und beschreibt Methoden zur Teufelsaustreibung.

So obskur und grausam die »Behandlungsmethoden« wie Dämonen- oder Teufelsaustreibung heute anmuten, sie ergeben sich stringent aus dem damaligen »Störungsverständnis«: ist die Ursache einer (leidvollen) psychischen Erscheinung die Besessenheit durch ein fremdes Wesen, ist es konsequent, Maßnahmen durchzuführen, die dieses Wesen aus den Befallenen vertreiben.

Das gilt noch heute: Aus den Störungsmodellen sollte sich möglichst stringent die Therapie ableiten. Mit kritischer Distanz betrachtet, wirken heutige Behandlungstechniken oft nicht weniger obskur: Einen Phobiker zu »zwingen«, sich solange dem Objekt seiner Angst auszusetzen, bis die Angst nachlässt, erscheint doch arg grausam; ebenso ein sich hinter der Couch in Abstinenz und Neutralität übender und hin und wieder Deutungen von sich gebender Therapeut gegenüber einem offensichtlich bedürftigen Patienten; oder die Vorstellung, man könne durch das bloße Angebot einer wertschätzenden Beziehung für 50 Minuten wöchentlich die »Heilung« einer chronischen psychischen Störungen erreichen; oder die Annahme, eine leidende Familie könne durch ein paar provokante »System-Verstörungen« zu einem nachhaltig gesünderen Miteinander gebracht werden. Diese zugegebenermaßen karikaturhafte Darstellung soll verdeutlichen, dass auch heute die Frage der Stringenz zwischen (mehr oder weniger) wissenschaftlichen Störungsmodellen und den daraus abgeleiteten Behandlungsmethoden immer wieder kritisch zu hinterfragen ist.

Die Phase der Asyle

Bis zum 15. Jahrhundert gab es keine Hospitäler für psychisch Kranke in Europa, dafür aber viele für Leprakranke. Nach Ende der Kreuzzüge ging die Lepra zurück und man wandte sich vermehrt den Geisteskrankheiten zu und nutzte u. a. die alten Lepraeinrichtungen zur Internierung psychisch Kranker – die Asyle.

In London wurde 1547 das Piority of St. Mary of Bethlehem eröffnet, ein Asyl für Geisteskranke; »Bedlam« (Volksmund für »das Hospital«) wurde zum Synonym für Aufruhr und Chaos. Das Asyl wurde zu einer der größten Touristenattraktionen Londons: gegen Eintritt konnten die »Verrückten« besichtigt werden. In Wien kam es 1784 zur Eröffnung des »Narrenturms«. Auch hier gab es Besichtigungen, die Passanten konnten durch die Zwischengänge die »Narren« betrachten. Der Narrenturm beinhaltet heute eine skurrile Sammlung von »Instrumenten«, mit denen die »Irren« traktiert wurden. In den USA sah Benjamin Rush (18. Jahrhundert in Philadelphia) die Ursache psychischer Störungen in einem »Blutandrang im Gehirn« – entsprechend verordnete er Aderlässe bis zu fünf Litern: die Patienten wurden tatsächlich ruhiger (!). Als weitere Behandlungsmethode versetzte er die Patienten in Angst und Schrecken (z. B. wurden sie in einem Sarg unter Wasser gedrückt).

Die Wende im Umgang mit psychisch Kranken wird allgemein durch das Wirken von Philippe Pinel (1745–1826) gesehen, der seit 1793 die Leitung des Pariser Asyls La Bicêtre innehatte. Bis dahin...