Ich bin Autistin - aber ich zeige es nicht - Leben mit dem Asperger-Syndrom

Ich bin Autistin - aber ich zeige es nicht - Leben mit dem Asperger-Syndrom

von: Liane Holliday Willey. Vorwort Tony Attwood, www.autismus-buecher.de

Verlag Rad und Soziales, 2013

ISBN: 9783956901553 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Ich bin Autistin - aber ich zeige es nicht - Leben mit dem Asperger-Syndrom


 

2. Der Unterschied wird größer, und ich frage mich warum


 

Meine Gedanken sind in der Mitte ganz klar, an den Rändern voller Falten, außen ganz zerfetzt.

Ich kann mich dazu bringen, nur das Klare zu sehen, indem ich meine Augen ganz auf die Mitte gerichtet halte, auf die Essenz,

den Punkt, der vollkommen deutlich ist.

Ich kann meine Erinnerungen mit dem Hauch meines

Flüsterns vermischen

und die Ränder glätten,

wenn ich es muss,

wenn ich es möchte,

wenn mein Äußeres zu sehr strapaziert wird.

 

Ich denke nicht, dass die Jahre als Teenager für überhaupt irgendjemanden sorgenfrei sind. Für mich waren es aufschlussreiche und faszinierende Zeiten, wenn es auch nicht immer leicht gewesen ist und nicht ohne Probleme ablief. Meine Erfahrungen damals waren einfach, aber auch bereichernd. Es war, als habe diese Zeit aus einer Vielzahl von Rätseln bestanden, denen ich in aller Unschuld gegenüberstand. Kognitiv war ich mir meiner ungewöhnlichen Eigenschaften bewusst, die ich offenbar mit niemandem teilte. Aber aus irgendeinem Grund machte ich mir deshalb keine Sorgen, ja eigentlich machte ich mir darüber überhaupt keine Gedanken. Ich störte mich nicht daran, dass meine Freunde von anderen Voraussetzungen ausgingen, und meine Freunde störte das ebenso wenig. Die freundschaftliche Akzeptanz gab uns gegenseitig viel zu entdecken.

Ich erinnere mich daran, dass sich unter den Mitschülern meiner Schule mindestens drei verschiedene Cliquen gebildet hatten, denen man zugehörig sein konnte. Ich denke, dass es sogar noch weitere gab. Wenn ich jetzt an diese Cliquen zurückdenke, dann kommt es mir so vor, als sei jede von ihnen aufgrund gemeinsamer Interessen entstanden. Für Menschen mit dem Asperger-Syndrom bedeutet das, dass für sie ein Traum wahr wird. Ich kann mich noch lebhaft an die Gruppe von Schülern erinnern, in der ich Mitglied war. Es gab da Athleten, Cheerleader und all die Leute, die sich in der Schülerverwaltung engagierten. Ich war in diesen Freundeskreis geraten, weil ich schon in der Grundschule mit denselben Mitschülern befreundet gewesen war, also Jahre, bevor wir wussten, wie wir in unserer Gymnasialzeit sein würden und was wir dort machen würden. Unsere Freundschaft war für uns etwas, auf das wir uns verlassen konnten. Sie war beständig und gab uns daher Sicherheit - beides Qualitäten, die im Teenager-Alter eine Seltenheit sind. Wir waren diejenigen, die freimütig aussprachen, was wir dachten. Wir setzten uns sowohl praktisch als auch intellektuell für alles Mögliche ein. Nichts ging an uns vorüber, ohne dass wir uns ihm in den Weg stellten, uns zunächst eine Meinung darüber bildeten und uns damit auseinander setzten.

Es fiel mir leicht, meine Sicht der Dinge zu vertreten, ich tat das fast die ganze Zeit. Aus der Gruppe war ich mit Abstand am offensten und schonungslosesten, auch wenn meine Freunde mir häufig sagten, dass ich zu weit ging. Ich wusste nie, wie weit zu weit war. Sogar heute kann ich keinen guten Grund dafür finden, warum ich meine Gedanken für mich behalten sollte. Die Welt scheint mir in diesem Punkt unverständlich zu sein. Manchmal wollen die Leute eine ehrliche Meinung von einem hören, ein anderes Mal dagegen nicht. Zuweilen sagen sie so unglaubliche Dinge, dass man seine Meinung dazu einfach äußern muss. Manchmal sitzen sie still da und tun so, als hätten sie von der Situation, die entstanden ist, gar nichts mitgekommen. Die ganze Logik ist zu verwirrend. Ich kann nie begreifen, wie man mit Sicherheit wissen soll, ob es angebracht ist, seine Gedanken auszusprechen oder nicht. Natürlich denke ich oft darüber nach, ob ich vielleicht zu viel gesagt habe, und frage mich, ob man mich vielleicht falsch verstanden hat. Manchmal wünsche ich mir sogar, dass ich nicht gesagt hätte, was mir gerade herausgerutscht ist. Aber schon vor sehr langer Zeit ist mir klar geworden, dass es für mich einfacher wäre, einen Hund davon abzubringen, einem Knochen hinterher zu rennen, als mich selbst davon abzubringen, meine Gedanken auszusprechen.

Wenn alles, was man von mir im Gymnasium verlangte, meine Meinung gewesen wäre, dann wäre ich jeden Abend fröhlich zu Bett gegangen. Aber ich wollte mehr als das, nicht weil ich irgendjemandem etwas beweisen wollte oder weil ich ein bestimmtes Ziel erreichen wollte. Ich mochte bestimmte Aktivitäten einfach sehr gerne und suchte daher nach Wegen, wie ich sie ausüben konnte. Insbesondere drei Sachen hatten es mir während meiner Gymnasialzeit angetan. Die erste dieser Aktivitäten war das Leistungsschwimmen. Wasser versetzte mich immer noch in Entzücken und hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Schade, dass es aus mir keine gute Schwimmerin machte. Ich hatte ganz naiv angenommen, dass ich, weil ich am Schwimmen Spaß hatte, auch automatisch eine gute Mannschaftsschwimmerin werden würde. Ich hatte mich geirrt. Auf eine gewisse Weise hatte ich zwar eine natürliche Begabung für das Schwimmen. Ich konnte meine Luft sehr lange anhalten, meine Beine waren kräftig und ich war von der Gesamtkondition her sehr gut trainiert. Aber ich versagte in allem, was wirklich wichtig war. Ich konnte stundenlang schwimmen, aber das ging nur dann gut, wenn ich dabei meine beiden Arme gleichzeitig bewegen konnte und meine Beine ebenso synchron. Doch ich litt entsetzlich, wenn von mir bilaterale Koordination verlangt wurde oder mein Gleichgewicht gefragt war. Wenn ich zum Beispiel meinen linken Arm durchzog, konnte ich es nicht koordinieren, gleichzeitig mit meinem rechten Bein zu treten. Meine Schwimmtrainerin hatte mich wohl sofort aufgegeben, nachdem sie mich das erste Mal schwimmen gesehen hatte. Sie ließ mich trotzdem in der Mannschaft bleiben, und ich hatte das gleiche Trainingspensum wie alle anderen auch zu absolvieren. Sie war nie gemein oder grob zu mir. Wie hätte sie das auch sein können? Ich war ja so gut wie unsichtbar für sie.

Ich strengte mich so sehr an, wie ich konnte, um mit den anderen Schwimmern mitzuhalten. Ich kam früher und ging später als sie, aber ich konnte mir nicht beibringen, was mir fehlte. Ich ging zu ein paar Mannschaftstreffen, aber ich hatte die sozialen Aspekte der Gruppendynamik noch nie begriffen. Bei den Treffen saß ich allein da, schaute wiederholt auf die Uhr, bis das Treffen vorbei war und ich endlich gehen konnte. Ich glaube nicht, dass mich jemand vermisst hat, als ich aus der Mannschaft wieder austrat. Ich kann auch nicht sagen, dass ich meine Teamkollegen vermisst habe. Was mir fehlte, war das Wasser.

Manchmal träume ich davon, wie es gewesen wäre, wenn ich von jemandem trainiert worden wäre, der meinen individuellen Bedürfnissen gegenüber einfühlsamer gewesen wäre. Von jemandem, der erkannt hätte, dass meine Koordinationsprobleme einen anderen Hintergrund hatten als die Tatsache, dass ich mich nicht zum Leistungssportler eignete. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass mir jemand mehr zur Seite gestanden hätte. Aber in der Gymnasialzeit herrschte eben das Recht des Stärkeren. Ein Schüler musste schon dringend und offensichtlich Hilfe brauchen, bevor ihm geholfen wurde. Alle anderen standen allein da und mussten sich selbst darum kümmern, wie sie klar kamen. Nachdem mir bewusst geworden war, dass ich keine erfolgreiche Leistungsschwimmerin werden würde, ging ich stattdessen in einen Spielmannszug der Sportmannschaft, aber nicht als Musikerin. Ich war eine der Tänzerinnen in der wirbelnden Tanzgruppe. Was für eine lächerliche Wahl ich getroffen hatte. Wie konnte es sein, dass ich nicht begriff, dass die gleichen bilateralen Koordinationsprobleme, die ich beim Schwimmen hatte, mich davon abhalten würden, ein guter Cheerleader zu werden?

Wenn wir die Tanzeinlagen probten, stand normalerweise einer der Kapitäne der Tanztruppe gegenüber und machte uns die Bewegungsabläufe vor. Ich weiß nicht, wie die anderen es auf die Reihe brachten, aber es schien so, als ob jeder außer mir seinen Körper dazu bringen konnte, sich in die entgegen gesetzte Richtung von dem zu bewegen, was uns da vorgemacht wurde. Wenn also unsere Mannschaftsleiterin ihren linken Arm bewegte, bewegten sie auch ihren linken. Ich tat das nicht. Wenn jemand mir gegenüberstand und den linken Arm bewegte, dann bewegte ich meinen rechten. Wenn die anderen ihren rechten Arm bewegten, bewegte ich meinen linken usw. Ich bemerkte die ganze Zeit über, dass das nicht richtig war. Aber wie sehr ich es auch versuchte, wie oft ich zu mir sagte: „ihr rechter Arm entspricht meinem linken Arm", ich konnte dieses Wissen einfach nicht in die entsprechende Bewegung umsetzen. Nach einigen Wochen bilateraler Quälerei fand ich heraus, dass ich ein wenig erfolgreicher die Tanzschritte lernen konnte, wenn ich es von der letzten Reihe aus versuchte. Dieser Ausgangspunkt erlaubte es mir, die Leute vor mir, die wie ich nach vorne schauten, direkt nachmachen zu können. Irgendwann einmal, nach Stunden und Stunden des Übens, war ich so weit, dass ich die Tanzschritte mit der annähernd gleichen Fertigkeit wie meine Kolleginnen ausführen konnte, wenn jemand vor mir stand, der mir das vormachte. Das war natürlich nicht die einzige Fähigkeit, die man als Tänzerin benötigte. Es war nur die erste Grundlage, sich an die Schritte erinnern zu können und so lange zu üben, bis sie zur Routine wurden. Im nächsten Schritt sollte man sie dann zur Musik synchronisieren können. Und dieser zweite Schritt war um ein Vielfaches schwieriger, als es der erste gewesen war. Ich war ständig aus dem Rhythmus. Ich bettelte dauernd darum, in der letzten Reihe bleiben zu können, auch wenn ich nicht gerade groß war. Ich war immer diejenige, die stolperte.

Aus eben diesen Gründen habe ich in der...