Ich, Dante - Aus armen Verhältnissen in Brasilien zum FC Bayern München

von: Dante Bonfim Costa Santos, Patrick Strasser

riva Verlag, 2014

ISBN: 9783864135699 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 15,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ich, Dante - Aus armen Verhältnissen in Brasilien zum FC Bayern München


 

1.
»Und Pokal auch!«


Ich wache auf, schrecke hoch. Wo bin ich? Wie viel Uhr ist es? Hab ich verschlafen? Training? Abfahrt zum Spiel? Hab ich was verpasst? Hektisch greife ich zur Uhr. Ah, alles okay. Erst sechs Uhr früh. Aber dieses Hotelzimmer? Richtig. Ich bin in Rio de Janeiro. Mit meiner Nationalmannschaft, der Seleção.

Draußen wird es langsam hell. In mir auch. Die Erinnerung ist schneller als die Dämmerung. Heute steht ein ganz wichtiges Spiel an. Vielleicht das wichtigste überhaupt, weil es eine einmalige Chance ist – für den FC Bayern München, meine Mannschaft. Im DFB-Pokal-Finale von Berlin können meine Jungs den letzten Schritt zum Triple machen, am Abend heißt der Endspielgegner VfB Stuttgart.

Heute ist der 1. Juni 2013, es könnte ein historisches Datum werden. Nie zuvor in 113 Jahren Vereinsgeschichte ist es dem FC Bayern München gelungen, alle drei großen Wettbewerbe einer Saison zu gewinnen: Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League. Ich kann nicht mehr schlafen, bin jetzt schon nervös. Es arbeitet in mir. Was tun? Ich fühle mich so weit weg und so machtlos. Aber ich will etwas tun, helfen, irgendwie dabei sein. Eine SMS, klar. Noch besser: ein Video! Auf jeden Fall irgendwas zur Motivation. Ich war und bin doch immer einer, der die Jungs pusht.

Meine Gedanken schweifen ab, die Augen fallen mir wieder zu. Gerade eine Woche ist es her, dass wir in London gefeiert haben. Das 2 : 1 im Champions-League-Finale gegen Dortmund im Wembley-Stadion war der größte Erfolg in der Karriere aller Spieler – doch die größte Party der Saison hatten wir uns für Berlin, für die Nacht nach dem DFB-Pokal-­Finale, aufgehoben. Und ausgerechnet diese Superfeier sollte ich verpassen.

In den Tagen nach London war einiges passiert, viel Stress, viel Hektik. Für mich war es nicht einfach, die Jungs vor dem DFB-Pokal-Finale zu verlassen. Eine sehr traurige Geschichte. Dass ich nun im Hotelbett in Rio wach liege, kam so: Dass wir ein Problem hatten, erfuhren Luiz Gustavo, der damals noch mit mir beim FC Bayern spielte und ebenfalls für die brasilianische Nationalelf und den anstehenden Confederations Cup in unserer Heimat nominiert war, und ich nach dem Sieg in der Champions League am Dienstag. Sofort begannen die Gespräche und Verhandlungen zwischen München und Rio, zwischen dem brasilianischen Verband CBF und dem FC Bayern. Ein Hin und Her, ein Gefühlschaos. Wir haben auch selbst mit »Felipão«, unserem Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari, gesprochen. Er hat mir und Luiz Gustavo gleich gesagt: »Jungs, ihr habt keine Chance, für Bayern das Pokalfinale zu spielen. Ihr seid nominiert, und die Abstellungspflicht der Vereine, die vom Fußball-Weltverband Fifa vorgeschrieben ist, beginnt 14 Tage vor einem Turnier.« Wir haben natürlich gedacht, dass das doch nicht sein kann. Also was tun? Wir haben uns zusammengesetzt und eine Lagebesprechung an der Säbener Straße, dem Trainingszentrum des FC Bayern, abgehalten: Chefcoach Jupp Heynckes, Sportvorstand Matthias Sammer, Luiz und ich. Der Termin für das Pokalfinale war in meinen Augen eine Fehlplanung des Ligaverbandes DFL und des Deutschen Fußball-Bundes DFB. Das konnte doch nicht wahr sein!

Die Verantwortlichen von Bayern hatten Angst vor den Konsequenzen, falls wir Spieler nicht wie angefordert nach Brasilien fliegen würden. Denn dann hätte es eine hohe Geldstrafe für den FC Bayern gegeben, womöglich hätte man ihnen sogar nachträglich den Sieg im Pokalfinale aberkennen können.

Und wir Spieler hatten Angst, dass wir dann schuld wären und darüber hinaus persönliche Konsequenzen tragen müssten, dass wir womöglich aus dem Kader für die Weltmeisterschaft 2014 fliegen und damit unser großer Traum, die Endrunde in unserem Heimatland zu erreichen, zerstört werden würde.

Für unseren Vizekapitän Bastian Schweinsteiger war die ganze Angelegenheit ein »absoluter Wahnsinn, ein Spieler arbeitet das ganze Jahr darauf hin, in so einem Finale zu stehen«. Was er sagte, tat mir gut: »Dante ist ein wichtiger Leistungsträger und Führungsspieler.« Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge sprach in der ersten Verärgerung von »Psychoterror« und »unmenschlichem Druck« des brasilianischen Fußballverbandes, er fand dies alles »skrupellos« und »unfair«. Ganz so war es aber nun auch nicht. Vom DFB hieß es, man habe darauf vertraut, dass im Fall der Fälle immer eine Einigung mit dem betreffenden Nationalverband möglich sei. Man wundere sich nun, dass sich die Brasilianer so stur stellten. Bei Javi Martínez, unserem Spanier beim FC Bayern, war die Teilnahme am Pokalfinale zum Beispiel kein Problem, er sollte erst am Sonntag zu seinem Nationalteam reisen. Bei uns Brasilianern ging es genau um einen Tag, denn unsere Seleção eröffnete am 15. Juni in Brasilia gegen Japan diesen WM-Testlauf.

Aus unserer Sicht war es unmöglich zu bleiben! Ausgeschlossen! Leider. Natürlich wollten wir den Confed Cup spielen, Trainer Felipão und all unsere Landsleute von uns überzeugen und diesen Titel gewinnen, damit man uns genau ein Jahr vor der WM vertraute. Ich war in der Gefühlszwickmühle, denn mein Alltag, mein tägliches Leben findet in München statt, beim FC Bayern. Meinen Posten in der Innenverteidigung bekam beim DFB-Pokal-Finale schließlich Daniel Van Buyten. Und die ganze Mannschaft bekam ein Video.

Dass ich die Idee dazu schon vor dem Finale hatte und das Video dann auch gleich verschickt habe, wollten wir damals nicht verraten. Bisher habe ich behauptet, ich hätte es danach gesendet – als Gratulation. Aber das stimmt nicht. Ich sollte das vielleicht nicht zugeben, damit es nicht so aussieht, als wäre ich so überheblich gewesen, schon vor dem Anpfiff gegen Stuttgart von »Pokal auch« zu singen. Dabei war es als Motivation gedacht.

Mein 38-Sekunden-Video entstand so: Wegen der Zeitverschiebung zu Deutschland und dem Jetlag kann ich nicht gut schlafen, außerdem bin ich unruhig wegen all der Sachen, die passiert sind, wegen des heutigen Pokalfinales. Ich wache also an diesem Samstag ganz früh um sechs Uhr morgens in Rio de Janeiro auf, in Deutschland ist es schon zehn Uhr – das verdanke ich meinem Biorhythmus. Meine Gedanken sind beim Pokalfinale, beim FC Bayern. Wie kann ich trotz der Entfernung helfen? Ich muss etwas für die Jungs machen, ihnen eine Botschaft schicken.

Zuerst drehe ich ein ganz normales Video. »Hallo, Jungs!« Mit der Handykamera nehme ich die Uhrzeit auf: kurz nach sechs Uhr morgens. »Ich bin leider nicht persönlich da, aber mit meinem Herzen bin ich bei euch. Und ich bin überzeugt, dass wir es schaffen, das Triple endlich zu holen. Ich will auf jeden Fall hier in Brasilien das Triple feiern.«

So in der Art, einfach so drauflosgesprochen. Aber ganz zufrieden bin ich nicht, das reicht mir noch nicht. Mein Bauch, mein Herz sagen mir, dass ich etwas Besonderes machen muss. Plötzlich habe ich eine Melodie im Kopf, einen Rhythmus, ein Lied. Später hat man mir erzählt, dass mein Song dem Hit Rivers of Babylon der Gruppe Boney M ähnelt. Auch dass die Bayern-Fans ab und zu in den Stadien diese Melodie mit einem anderen Text singen, ist mir nicht bewusst. Vielleicht schwirrte mir die Melodie dadurch aber unterbewusst im Kopf herum.

Ich sitze also da, singe den Song leise vor mich hin, klopfe den Rhythmus mit und denke mir: Hey, das ist gar nicht so schlecht. Ich probiere ein paar Varianten. Ja – so. Nein – so nicht. Hm. Etwa so? Oder so? Bis es passt. Handy zur Hand, ich stelle mich hin, ziehe eines der Bayern-Trikots an, die ich dabeihabe. Selbstaufnahme. Video läuft. Mit dem ersten Versuch bin ich nicht zufrieden. Okay, noch mal, das geht sicher besser. Zweiter Versuch. Ach, ich weiß nicht. Zwischendrin muss ich immer lachen. Fünf Mal nehme ich das Ganze auf, bis ich endlich beschließe, dass es gut ist. An meine Frisur habe ich dabei allerdings nicht gedacht, auf dem Video sieht man daher meine völlig zerzausten Haare. Klar, ich war ja noch nicht wirklich aufgestanden und im Bad gewesen.

Da wir eine WhatsApp-Gruppe haben, in der alle Spieler zusammengefasst sind, kann ich meine Sachen auf einmal – zack – an alle gleichzeitig verschicken. Auf meine erste kurze Videobotschaft haben schon einige meiner Mitspieler geantwortet: »Hey, super!«, »Danke, Dante!« oder »Wir schaffen das zusammen. Keine Sorge!« Sie haben auch Smileys geschickt. Nach dem ersten nur gesprochenen Video beginne ich deshalb das zweite gesungene Video mit: »Hallo, Jungs! Servus! Wieder, bin da.«

Als ich das Video aufnehme, singe und jauchze, bin ich allein im Hotelzimmer, von meinen Nachbarn hört mich keiner. Denke ich zumindest. Aber David Luiz, mein bester Kumpel in der Nationalelf, hat etwas gehört, einen komischen spitzen Schrei, sagt er später. Nachdem ich das Video mit dem Song verschickt habe, gehe ich frühstücken. Ich kann sowieso nicht mehr einschlafen, bin auch den ganzen Tag über aufgeregt und nervös. Als ich einigen Mitspielern der Seleção meine Performance zeige, amüsieren die sich prächtig.

Ich habe auch in München immer versucht, meine Mitspieler anzuspornen, sie zu motivieren. Das hilft. Ganz sicher. Vor jedem Spiel. Du darfst eben nicht nachlassen. Es müssen immer Spieler in einer Mannschaft sein, die diese Aufgabe übernehmen, die den Rest der Truppe motivieren. Damit alle wach sind. Arjen Robben ist der Erste, der reagiert, ganz schnell. Er schreibt, er habe sich kaputtgelacht. Und auch Basti Schweinsteiger antwortet sofort, dass er sich sehr gefreut habe. Die meisten schicken Nachrichten: »Ja, super! Geile Sache!« Oder sie senden Smileys.

Basti mag diese...