Was ist gerecht? - Kennzeichen einer transnationalen solidarischen Politik

von: Franziska Dübgen

Campus Verlag, 2014

ISBN: 9783593422480 , 330 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 41,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Was ist gerecht? - Kennzeichen einer transnationalen solidarischen Politik


 

Einleitung

Bei einem Sparziergang durch die Hauptstadt Ghanas begegnete mir vor mehreren Jahren ein Taxi, das vor einem modernen Internetcafé geparkt war und auf dem ein Schild befestig war mit der Aufschrift: »Respect the poor!«. Entgegen dem gewöhnlichen Alltagsverständnis forderte der Besitzer dieses Wagens nicht, Armen zu helfen oder Armut zu bekämpfen. Er forderte etwas bei Weitem Schwierigeres und Provokanteres: den Armen Respekt entgegenzubringen. Die Aufschrift auf dem Schild in Accra begleitete mich in den nächsten Monaten und Jahren in meiner Forschung. Ich fing an, darüber nachzudenken, wie dieses Verlangen interpretiert werden sollte: Einerseits könnte man annehmen, der Verfasser weise daraufhin, dass als Arme stigmatisierte Akteure häufig zusätzliche Demütigungen erfahren, welche über eine zunächst materielle Enteignung hinausreichen. Andererseits könnte man diese Selbstaffirmation positiv wenden und davon ausgehen, dass hier Armut als eine Form des einfachen Lebensstils bewusst vom konsumorientierten Kapitalismusmodell unterschieden wird. Schließlich lenkt der Autor der Aufschrift unser Augenmerk auf die Bewohner Accras selber, die sich trotz ihrer Armut behaupten und trotz ihrer Marginalisierung ins Armenviertel sich ihrer selbstbewussten Stimme nicht berauben lassen.

Eine weitere Intuition begleitete diese Forschung, die ich im Rahmen der Lektüre von Schriften über globale Gerechtigkeit, die sich mit Fragen von Armut und Entwicklung befassten, stets aufs Neue mit Unbehagen hegte: Die wiederkehrende Beobachtung, dass »Entwicklungspolitik«, Armut und Gerechtigkeit zwar häufig als komplementäre Begriffsfelder zueinander gedacht werden, praktisch wie auch normativ jedoch nicht unbedingt zueinander gehören und häufig einander sogar widersprechen. So kann das einseitige Sprechen über »unterentwickelte« Länder selber eine Form rhetorischer Gewalt manifestieren, welche einen respektvollen Dialog über Gerechtigkeit verhindert und Ungerechtigkeit und Abhängigkeiten im Gegenzug reproduziert: Die Semantik der Entwicklungshilfe kann Fragen der Gerechtigkeit zugunsten einer Rhetorik der Barmherzigkeit in den Hintergrund drängen und sich dadurch der zentralen Fragen von Ausbeutung und Unterdrückung entledigen. Auch gilt es zu fragen, ob Entwicklung überhaupt als eine Frage der Gerechtigkeit verhandelt werden sollte und wenn ja, wie dies sinnvoll getan werden könnte. Schließlich behauptet der Entwicklungstheoretiker Wolfgang Sachs in seiner Einleitung zum Development Dictionary (2010) im Rückblick auf die vergangenen Entwicklungsdekaden: »In the development age, the rich world was able to sidestep the hard issues of justice, because economic growth was seen as the main tool to bring greater equity. [...] however, this approach has definitely turned out to be one-sided; it is not just the poor but also the rich, and their economy as well, that have to be called into question.« (Sachs 2010: xiii-xiv)

Sachs beobachtet, dass die Sprache der Gerechtigkeit zwischen Menschen zunehmend durch ein ökonomistisches Entwicklungsdenken verdrängt worden sei und dass dieser Prozess zu einem verkehrten Blick auf die Beziehung zwischen den Begriffen »Entwicklung« und »Gerechtigkeit« geführt habe. Zwar werde Entwicklung als Desiderat für ärmere Länder angenommen, jedoch bemäntele diese Sichtweise die Schattenseiten eines kapitalistischen Entwicklungsdenkens: die soziale Ungleichheit, die mit Modernisierungsprozessen einhergeht, die Entrechtung von indigenen Völkern und die Beseitigung ihrer Lebensgrundlagen, der Verlust an Biodiversität, der zerstörerische Konsumzwang einer wachsenden globalen Mittelklasse und letztlich die damit einhergehende Norm dessen, was gesellschaftlicher Reichtum bedeutet. Der »Kannibalismus« ökonomischer Entwicklung gehe stets zu Ungunsten der Schwächsten, in deren Namen er zugleich agiert, argumentiert Sachs (ebd.: x). Schließlich ist die systemische Kehrseite der Idee von modernisierender Entwicklung die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und ökologischer Ressourcen. In diesem Sinne wirkt der Ruf nach Gerechtigkeit für aufstrebende Industrienationen in Form von kapitalistischer Entwicklung paradox, wenn man davon ausgeht, dass sich dieser Lebensstil nicht egalitär und nachhaltig gestalten lässt und bestehende Abhängigkeit in einer transnationalisierten Ökonomie weiter fortschreibt. Sachs stellt durch diese Beobachtungen die Korrelation zwischen Gerechtigkeit und Entwicklung in ihren Grundfesten infrage. Daran anschließend ließe sich fragen, wie sich überhaupt sinnvoll aus einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive über Entwicklungszusammenarbeit nachdenken lässt. Die aktuelle Entwicklungspolitik basiert auf einer langwierigen Geschichte der Ungerechtigkeiten zwischen den Industrienationen, den Entwicklungs- und den Transformationsländern; einer Geschichte der Sklaverei, des Kolonialismus und der wirtschaftlichen und politischen Apartheid. Von dieser Annahme geht die Debatte über »Entwicklung« innerhalb postkolonialer Theoriebildung aus und liefert einige radikale Impulse, das Denken der Entwicklung kritisch zu hinterfragen (Biccum 2010; Eriksson Baaz 2005; Kapoor 2008; McEwan 2009). Jedoch fehlt diesen Schriften eine moralphilosophische Selbstreflexion bezüglich der Grundlagen ihrer Kritikpunkte an der aktuellen Entwicklungspolitik und dem Diskurs über Entwicklung. Eine solche Selbstbefragung könnte jedoch eine konstruktive Gegenfolie zu den aktuellen Praktiken im Sinne einer solidarischen Politik liefern. Begreifen wir den Bereich der Entwicklungszusammenarbeit als eine normative Ordnung, so lassen sich verschiedene konkurrierende Rechtfertigungsnarrative darin identifizieren: Zum einen setzt sich aus der Sicht der »Empfänger« im Entwicklungsdiskurs ein Narrativ der Zivilisationsmission fort, das sich in die Zeit des Kolonialismus und der ersten Entwicklungsprogramme in den Kolonien zurückführen lässt. Dieses Narrativ transformierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einen Diskurs des transitiven Entwickelns der Anderen und diente der Selbstlegitimation der Gebernationen. Zugleich ist die Entwicklungszusammenarbeit mit einem Diskurs über globale Gerechtigkeit verwoben, der für Umverteilung, gleiche Teilhabe an einer globalen Öffentlichkeit und Lebenschancen eintritt und aus moralischen Gründen für eine solidarischere Welt argumentiert. Letztlich stellt auch die Entwicklungspraxis selbst eine Rechtfertigungsordnung dar, indem sie durch ihre Praxis moralische und politische Legitimation für bestehende soziale Verhältnisse verleiht und dadurch in den Widerstreit mit ihren eigenen moralphilosophischen Prämissen gerät. Daher sollte Entwicklungszusammenarbeit als ein Machtdispositiv (Foucault 1978) analysiert werden, in dem Akteure mit ungleicher politischer, ökonomischer und diskursiver Macht innerhalb einer Rhetorik der solidarischen Partnerschaftlichkeit miteinander agieren, dadurch Wissen produzieren und moralische Rechtfertigungen hervorbringen.

In der zeitgenössischen Literatur zu globaler Gerechtigkeit werden Begriffe wie »Armut« und »Entwicklung« nicht als normativ imprägnierte Begriffe zur Disposition gestellt. Selbst innovative Theoretiker im Feld globaler Gerechtigkeitstheorie beziehen sich in ihren Schriften häufig auf Daten zu Bruttoinlandsprodukten (Gross Domestic Product, GDP) oder auf Statistiken aus den Entwicklungsprogrammen der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, UNDP), um globales Unrecht deskriptiv zu erfassen und normativ zu skandalisieren, ohne die präskriptiven Effekte dieser Terminologien zu bedenken (Pogge 2003: 224f.; Schlothfeldt 2007: 77f.; Gosepath 2001a: 145). Sie fordern, die Armut zu beseitigen oder den Armen zu helfen. Dabei gerät Armut als systembedingte Kategorie der Marginalisierung und Exklusion in den Hintergrund. Gängige modernisierungstheoretische Auffassungen von »Entwicklung«, tendieren dazu, Fragen der Gerechtigkeit hin zu ökonomischen und technokratischen Problemfeldern zu verengen. Es bedarf daher einer normativen Befragung dieses Begriffs anhand einer kritischen Genealogie (Saar 2007), welche die vielschichtigen Bedeutungsebenen dieser Konzepte als metatheoretische Propädeutik im moralphilosophischen und politischen Diskurs herausarbeitet und zur Disposition stellt. Man könnte gegen diese Vorgehensweise einwenden, dass dieser Analysebereich vermeintlich empirischer Praxis ein Aufgabenfeld der nichtidealen, sprich nichtphilosophischen Wissenschaften sei. Eine solche Sichtweise blendet jedoch die normative Relevanz dieser begrifflichen Konzepte sowie deren Einfluss auf die Herausbildung moralischer Intuitionen und auf die jeweilige Konstruktion transnationaler Gerechtigkeit aus. Um diesen Fallstricken zu entgehen, schenke ich den beiden präskriptiven Begriffen »Entwicklung« und »Armut« im ersten Kapitel unter Berücksichtigung postkolonialer Ansätze eingehende Aufmerksamkeit. Insbesondere die Durchmachtung einer Ordnung, die auf Narrativen der Gerechtigkeit beruht, erregt im globalen Süden diskursiven Widerstand. Daher rekonstruiert das zweite Kapitel aus der Empfängerperspektive einige wesentliche Topoi der Kritik, welche die Entwicklungszusammenarbeit als ungerecht erscheinen lassen. Diese phänomenologische Beschreibung analysiert Entwicklungszusammenarbeit als Perpetuierung ungleicher Macht - durchsetzt von einzelnen transformativen Elementen des Widerstandes.

Als weitere Vorarbeit für eine gerechtigkeitstheoretische Reflexion der Entwicklungszusammenarbeit wende ich mich den Bedingungen der Theoriebildung zu und konturiere verschiedene Wege »transkulturellen Philosophierens«. Ein zentraler Begriff in dieser Debatte ist derjenige der Übersetzung moralphilosophischer Kategorien. Ziel des dritten Kapitels der Arbeit wird es von daher sein, einen machtreflexiven und dynamischen Begriff der Übersetzung zu skizzieren, der auch die postkolonialen Bedingungen des Diskurses problematisiert. Als weitere kritische Vorarbeit klärt das dritte Kapitel die konkrete Forschungsperspektive der »Paradoxien« der Gerechtigkeit. Damit soll auf Phänomene hingewiesen werden, an denen sich normative Analysen auf den ersten Blick widerstreiten und daher zur weiteren Reflexion einladen: Manche Kritiker lehnen den Begriff der Entwicklung pauschal ab, während andere für eine gleiche Teilhabe an einer globalen Marktwirtschaft und deren Entwicklung argumentieren. Daher gehe ich der Frage nach, wo sich die unterschiedlichen Narrative von Entwicklung widersprechen, wo sie einander begegnen und wie sich ihre Beziehung konzeptuell auf einer moralphilosophischen Ebene reflektieren lässt.

Das vierte, daran anschließende gerechtigkeitstheoretische Kapitel bildet das Zentrum dieser Arbeit. Es verknüpft die phänomenologische Kritik an Entwicklungszusammenarbeit und die postkoloniale Skepsis gegen Moralphilosophie mit den zeitgenössischen Debatten innerhalb der Kritischen Theorie über transnationale und globale Gerechtigkeit. Als zentrale Autoren in dieser Debatte beziehe ich mich auf die philosophischen Arbeiten von Rainer Forst, Nancy Fraser und Iris Marion Young. Ziel dieser argumentativen Abwägung ist es, das postkoloniale Unbehagen an dem moralphilosophischen Diskurs über globale Gerechtigkeit in normative Argumente zu übersetzen. Als konkretes Objekt der Kritik beziehe ich mich auf Argumente gegen das Entwicklungsdispositiv, das als Effekt und Gegenstand der globalen Gerechtigkeitsdebatte deren Rechtfertigungen materialisiert. Das Kapitel mündet in einem normativen Rahmenkonzept transnationaler Gerechtigkeit, das sensibel für postkoloniale Blickweisen ist und normative Grundlagen anbietet, anhand derer sich solidarische Politik anders konzipieren ließe als die Entwicklungspolitik bisher.

Das abschließende fünfte Kapitel skizziert daher einen Solidaritätsbegriff, welcher, verstanden als Praxis der Gerechtigkeit, die Kritik wieder an soziales Handeln koppelt. Nach der Würdigung postkolonialer und (queer)feministischer Beiträge zum Begriff der Solidarität umreiße ich die wesentlichen Elemente und Anforderungen an solidarische Praktiken, die sich aus den bisherigen Reflexionen sinnvollerweise ableiten lassen. Daran anschließend werden exemplarisch zwei mögliche Orte der Solidarität untersucht; und zwar das Weltsozialforum als zivilgesellschaftlichem Raum einer anderen Form der solidarischen Politik und das Operndorf von Christoph Schlingensief in Burkina Faso als Ort künstlerischer Praxis, welches mit der gängigen Rhetorik der Entwicklungshilfe brechen möchte. Anhand einer Diskussion der Stärken und Schwächen dieser Initiativen zeige ich auf, wie eine neue Politik der Solidarität in dieser postkolonialen Welt aussehen könnte, welche auch die ihr zugrunde liegenden Begrifflichkeiten wie Reichtum und Entwicklung kritisch hinterfragt. Solidarische Praktiken bedürfen überdies der institutionellen Verstetigung, welche die solidarischen Bündnisse überdauert. Daher skizziere ich am Schluss dieser Arbeit als Ausblick mögliche Formen der Institutionalisierung solidarischer Praktiken vor dem Hintergrund der regulativen Idee radikaler Demokratie auf transnationaler Ebene.

Die Arbeit versteht sich als eine doppelte Kritik an hegemonialen Denkweisen der Entwicklungspolitik und deren moralischer Legitimation in der normativen Debatte über globale Gerechtigkeit durch die Annahme, Entwicklungshilfe sei eine Pflicht der Gerechtigkeit. Auf diesem Abstraktionsniveau kann die Arbeit der empirischen Heterogenität der konkreten entwicklungspolitischen Praxis selbstverständlich nicht gerecht werden und unterstreicht mehr ihre Schwächen, als dass sie ihre Erträge zu würdigen versteht. Insofern könnte dieser Arbeit vorgeworfen werden, einseitig zu operieren. Als sozialphilosophische Kritik ist es jedoch mein explizites Anliegen, bisher marginalisierte Perspektiven ins Zentrum der Debatte zu rücken und in großen Linien zu konturieren, wie angesichts der hier vorgestellten postkolonialen Sichtweisen neu oder anders über transnationale Solidarität nachgedacht werden muss. Der damit verbundene Wunsch besteht darin, Impulse zu liefern, wie Solidarität, basierend auf der Idee von transnationaler Gerechtigkeit, zukünftig gestaltet werden kann - so dass sie ihren eurozen­trischen Überlegenheitsgestus moralphilosophischer Überheblichkeit und ihr geschichtsvergessenes Selbstverständnis als supererogatische »Hilfe« schrittweise hinter sich lässt.