Rekonstruktionen, Konstruktionen, Interpretationen: Vom »Selbst-Ich« zum »Ich-Selbst« - Jahrbuch der Psychoanalyse 23

von: Wolfgang Loch, Friedrich-Wilhelm Eickhoff; Wolfgang Loch; Hermann Beland; Edeltrud Meistermann-Seege

frommann-holzboog Verlag Jahrbuch der Psychoanalyse, 1988

ISBN: 0009410023203 , 45 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,00 EUR

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Rekonstruktionen, Konstruktionen, Interpretationen: Vom »Selbst-Ich« zum »Ich-Selbst« - Jahrbuch der Psychoanalyse 23


 

Zusammenfassung 1. In dieser unserer Welt laufen ständig zwischen energetischen Feldern Wechselwirkungen ab. Viele zeitgenössische Forscher nehmen an, daß dadurch im Sinne eines Geschehens-logischen-Interpretations-Zyklus unter Umständen Strukturen sich herausbilden, die zu Dingen gerinnen. Die Interaktionen zwischen diesen Dingen führen dann ihrerseits zu weiteren Interpretationen, wobei sich über die miteinander in Reaktionen verwickelten Dinge kausale Beziehungen ergeben. Indem solch ein Spiel über Milliarden von Jahren statthat, werden durch Zufall und Notwendigkeit schließlich autopoietische Systeme entstehen (s. dazu auch W. Stegmüller, 1986, daselbst W. Krohn et al.; K. H. Pribram, 1986). 2. Für die Entwicklung der Menschen und im besonderen für die Ontogenese des Individuums kann diese Theorie einsichtig machen, daß die „kognitive Wirklichkeit", die den Menschen auszeichnet, zwar an die physikochemischen Prozesse der Autopoiese gebunden ist, aber daß für sie deren Gesetze nicht gelten, denn die selbstreferentiellen Systeme des Menschen setzen ihn in den Stand, „individuelle Inhalte selbst-explikativ (zu) entwickeln" (G. Roth, 1987, 281), und zwar in Rückkoppelung mit seinesgleichen. Dies kann nicht anders sein, da ohne mutuellen Konsens und interaktional gesicherte Kohärenz keine Selbstidentität resultieren kann. Ist letztere einmal gegründet, wird sie Verhältnisse aufsuchen bzw. herstellen, die sie bestätigen. Genau dies versucht der Analysand im Rahmen des psychoanalytischen Dialoges zu erreichen. Es wurde darauf hingewiesen, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang die Konstruktionen (und Interventionen überhaupt) des Analytikers haben: Sie eröffnen durch die Kenntlichmachung der Abwehrmotive den Spielraum für neue, aus den Trieben sich herleitende Besetzungen und dadurch für die Gewinnung inhaltlich neuer Erfahrungen. Aber noch bevor es dazu kommen kann, hat schon allein die Tatsache des Deutunggebens die Potenz zu neuen Erfahrungen vermittelt, wird doch durch die Formulierung, die Verbalisierung eines Geschehens, das bisher unbewußt ablief, diesem Geschehen ein Sinn (eine Bedeutung) verliehen, der es als diese Referenz zugrunde liegt. Dies impliziert, es könnte auch eine andere Referenz dafür geben oder es könnte überhaupt in einem anderen Sinn, in einer anderen Bedeutung verstanden werden. 3. Dieser Spielraum der Referenzen und Bedeutungen besteht, weil die Auslegung eines Geschehens, vorab, wenn es sich um nur enaktiv und/oder bildhaft enkodierte Erinnerungen handelt, seine Deutung bzw. Übersetzung immer mit einer gewissen Unbestimmtheit behaftet ist. Denn, abgesehen von der Übersetzung eines Beobachtungssatzes, der an eine Reizbedeutung gekoppelt ist (vgl. dazu W. v. Quine, 1971) und von „Reizbedeutungen als Gegenstände(n) der ichbezogenen propositionalen Einstellungen" (I.e., 1971, 213), sind hinreichend genaue Übersetzungen nicht möglich. Daß sie in beiden genannten Fällen hinreichend genau gelingen, liegt an der Tatsache, daß sich „die Menschen anatomisch ähneln“ (218), will sagen, daß ihre „Reizschemata" und die neurophysiologische Organisation ihrer Gehirne genügend „ähnlich“ sind (216). Auf dieser somatischen Ebene dürfte auch die Verankerung der primär außersprachlichen Gefühlsreaktionen stattfinden, einschließlich der, die die unmittelbaren Hier-und-Jetzt-Reaktionen betreffen, z. B. in bezug auf Trennungen und Übertragungen, die in direkter Beziehung zu den Reizen, die vom Analytiker ausgehen (s. dazu R. Längs, 1985), stehen. Sobald wir aber in die Dimension der Bedeutungszuschreibungen auf einer komplexeren seelisch-geistigen Entwicklungsstufe gelangen, die über den primitiven „instinktiven Arten des Verhältnisses zu anderen Menschen“ liegen, die ein „weiterer Ausbau dieses Verhaltens“ sind (L. Wittgenstein, 1929-1948, 545), wird die Übersetzung, werden Umschriften unsicher. Daß sie gelungen sind, kann dann nur an der Übereinstimmung in Urteilen (L. Wittgenstein, 1945, 389) erkannt und an der Veränderung der Lebenspraxis abgelesen werden. Beides heißt aber, der Analysand gibt seinen Erlebnissen eine andere, eine neue Deutung und handelt auf der Grundlage dieser neuen Bedeutung. 4. Es wurde versucht zu beschreiben, wie eine neue „Bedeutung“ im Kontext des aktuellen Erlebens von Affekten und Gefühlen über Deutungen mittels der Sprache konstituiert wird, und zwar auf der Grundlage, daß 1. zwischen dem Gestern und dem Heute eine strukturelle Identität besteht und daß 2. die Erkenntnis der faktischen materiellen Realität im Sinne eines „historischen Wahrheitskernes" erfolgte. Beide Faktoren, Formen des Wiederholungszwanges, sind eine Basis der Ich-Selbst-Kontinuität, ohne die die Konstruktion eines neuen Ich-Selbst-Sinnes nicht gelingen kann. 5. In summa ist festzustellen: Deutungen, Konstruktionen, psychoanalytische Interventionen überhaupt, ihrem Wesen nach „selective constructions of new meanings“ (J. G. Schimek, 1975, 862), lehren in Verbindung mit dem Durcharbeiten den „Analysanden die Methode des analytischen Denkens" (M. T. McGuire, 1971, 78), und diese Lehre ist ein neues Sprachspiel, eine neue Lebensform im Sinne Wittgensteins. Im Rahmen dieses Spiels mag der Patient, wenn er es übernimmt, die Überzeugung gewinnen, daß sein bisheriges Erklärungsschema für seine vergangenen Erfahrungen und Traumen im Hinblick auf sein zukünftiges Leben jetzt aufgegeben werden kann. Analysand und Analytiker haben dann zusammen einen anderen Bedeutungszusammenhang, eine Wahrheit, die existenztragenden Charakter hat (W. Loch, 1975, 184, 185), geschaffen, die von der gemeinsamen „Lebensform", vom gemeinsam geübten „Sprachspiel“ der psychoanalytischen Praxis repräsentiert und ratifiziert wurde. D. h. eine Umstrukturierung, eine Umschrift von Bedeutungen und so eine Veränderung der „ichbezogenen propositionalen Einstellungen" (W. v. Quine, 1971, 21) ist zustande gekommen, die eine Wandlung der Ich-Selbst-Identität umfaßt. Man kann das auch so beschreiben, daß man sagt, wenn bisher das Ich des Analysanden von seinem Selbst bestimmt wurde, mußte er doch, um nicht seine Identität zu verlieren, die Aufgaben lösen, die dessen Erhaltung ihm abforderten, so befähigten ihn die Ereignisse der Psychoanalyse, ein anderes, ein verwandeltes Selbst zu konstruieren bzw. zu konstituieren, dessen So-Sein nun vom Ich bestimmt ist.20 Eine solche Genese des Selbst wurde möglich, weil die wesentliche Aufgabe der Analyse ja darin bestand, die für die Ich-Funktionen „günstigsten Bedingungen herzustellen" (S. Freud, 1937a, 96). Die Metamorphose vom ,Selbst-Ich‘ zum ,Ich-Selbst‘ steht natürlich in Analogie zu dem Vorgang, den Freud beschreibt: „Wo Es war, soll Ich werden" (1933, 86; vgl. S. Freud, 1923, 286). Er umschließt auch den Übergang vom triebbesetzten an eine Person gebundenes Überich zur Anerkennung apersonaler, „vernünftiger" Normen. All das wird vorab als Folge der Deutung der ,Abwehr als Übertragung' ermöglicht, denn nur wenn sie gelingt, können Positionen eingenommen werden, die nicht mehr die bisherigen Abwehrmaßnahmen erfordern, eben weil die diesen zugrundeliegenden Strukturen aufgegeben werden konnten. Daß dies in „Freiheit" sich vollziehen kann und nicht durch einen „Willen zur Macht", der sich in einem „Logozentrismus" des Analytikers manifestiert (J. Simon, 1987, 89), hat zur Voraussetzung, daß der Analytiker „unaufdringlich" verfährt (M. Balint, 1968), daß er nicht von Erinnerungen präokkupiert wird, nicht von „Begierden" ("desire") getrieben ist, noch vom omnipotenten Verlangen „unbedingt zu verstehen" bestimmt wird (W. R. Bion, 1970). Daß er zudem zutiefst davon überzeugt ist: „Individualität läßt sich (letztlich) nicht diskursiv bestimmen, sondern nur bejahen" (J. Simon, I.e. 83). Und schließlich muß der Analytiker wissen, Deutungen - im weitesten Sinne verstanden - sind dann fruchtbar, wenn sie zur Geburt eines „Dritten" führen, das dem Analysanden wie dem Analytiker eine weitere psychische Existenz erlaubt (W. R. Bion, I.e.), eine Funktion, die auch diesem Dritten als solchem seine Daseinsberechtigung gewährt. Fast unnötig hier anzufügen, daß die Beachtung der genannten Voraussetzungen der psychoanalytischen Deutungstechnik diese vor der Gefahr schützt, „Konstruktionen", die „Wahnbildungen" vergleichbar sind (S. Freud, 1937b; vgl. R. Längs, 1985), zu produzieren.21 Aber freilich, auch diesem gewandelten Selbst22 wird sein Ich wieder dienen. Hat J. W. Goethe deshalb Recht, wenn er (Zahme Xenien, VII) dichtete: „Niemand wird sich selber kennen, sich von seinem Selbst-Ich trennen"? Er hat Recht, es sei denn, wir anerkennen, daß wir alle uns in einem „processus in infinitum" befinden, der „nicht ein Bewußtsein von etwas, (das) „an sich" fest und bestimmt wäre" (F. Nietzsche, 1887, 385) ist, sein kann, der vielmehr stets ein neues „aktives Bestimmen" verlangt. Die Psychoanalyse verwaltet ein Werkzeug für diesen Prozeß, das der anwendet, der sich mit ihm identifiziert. Ich meine die Identifizierung mit dem Gedanken, neue Deutungen zu finden, die das Verstehen der inneren und der äußeren Welt ständig erweitern, die dem Menschen für die „Möglichkeit diskursiver Konfliktlösung", d.h. „Subjekt" zu sein (U. Anaker, 1974, 1446) nützlich sind, die also die Ich-Leistungen, die „psychologischen und die konstruktiven" (S. Freud, 1938, 129) begünstigen (W. Loch, 1987). Gäbe es überhaupt eine andere Möglichkeit des Subjekt-, des Ich-Seins, nachdem an die Stelle des „absoluten Selbstbewußtseins“ das „Faktum der Endlichkeit und der Geschichte" getreten sind, d. h. der Prozeß der „unendlichen perspektivischen Interpretation“ (M. Frank, 1984, 181)?