Trauma und Zeiterleben. Theoretische Überlegungen - Jahrbuch der Psychoanalyse 29

von: Jutta Gutwinski-Jeggle, Friedrich-Wilhelm Eickhoff; Wolfgang Loch; Hermann Beland; Ludger M. Herman

frommann-holzboog Verlag Jahrbuch der Psychoanalyse, 1992

ISBN: 0009410029206 , 48 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,00 EUR

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Trauma und Zeiterleben. Theoretische Überlegungen - Jahrbuch der Psychoanalyse 29


 

Zeit und Raum sind Bedingungen unseres Denkens und Erlebens, die als Begriffe und Vorstellungen im Rahmen der Entwicklung erworben werden. Eine bestimmte Zeitauffassung wird geprägt zum einen durch die Kulturgemeinschaft, in die ein Individuum hineingeboren wird, zum anderen aber - und hier liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit - durch die Spezifik der Objektbeziehungskonstellation, die sich zwischen Säugling und Primärobjekt ergibt. Geht diese früheste Entwicklungsphase für den Säugling mit traumatischen Erlebnissen einher, so kann es in der Persönlichkeitsstruktur des Individuums zu gravierenden, wenn auch an der Oberfläche schwer erkennbaren Störungen des Zeitsinnes und damit des Denkens kommen. Unser Erleben von Zeit und Zeitvergehen wird oft im Bild des unumkehrbar in die Zukunft gerichteten »Zeitpfeiles« beschrieben. Es vollzieht sich jedoch nicht linear, sondern umfaßt zugleich eine Wiederkehr des Alten im Neuen durch zyklische Rhythmen, die unumgehbar in unsere somato-psychische Realität eingesenkt sind. Unsere Wahrnehmung arbeitet diskontinuierlich und unterscheidet die formalen Zeitkategorien Sequenz und Dauer. Die erste Erfahrung einer Abfolge besteht im Erleben von Hungerspannung und Befriedigung und führt zur ersten Erfahrung von Getrenntheit. Damit heißt die erste qualitative Zeiterfahrung, ‚warten müssen‘ und - im gelingenden Fall – ‚warten können', einhergehend mit Urvertrauen und einer gewissen Frustrationstoleranz, nämlich dem Ertragen der Abwesenheit des Objektes (für eine psychisch akzeptable Zeitspanne). Wird der Zeitraum des Wartens auf das wiederkehrende Objekt nicht ertragen, so resultieren gravierende Verzerrungen in der Wahrnehmung von Erfahrungen in und mit der Zeit. Da es für diese Persönlichkeit nur Jetzt oder Nie, aber kein Später gibt, ist nicht nur das Ende des jetzt unerträglichen Zustandes unvorstellbar, sondern gar kein Ende ist denkbar. Dadurch kann die positive Bedeutung von Veränderung im Sinne von Wachstum und Entwicklung nicht erkannt werden. Die Wahrnehmung von Grenzen und Kontinuität in einer Objektbeziehung wird pervertiert von einem omnipotenten Selbst, das in unbewußten inneren Zuständen von Fraktionierung bzw. ewiger Hölle oder ewigem Paradies lebt. Das Krankheitsbild der Depression (und ihrer manischen Abwehr) ist in besonderem Maße von Zeitpathologien betroffen, da die vorherrschenden Vernichtungsängste, ausgelöst durch drohenden Verzicht, die Selbstkonfrontation mit Vergänglichkeit und Tod verhindern. Der psychische oder leibhaftige Selbstmord des Depressiven bedeutet (paradoxerweise) Verleugnung von Tod, d.h. Leugnung der Zeitgebundenheit unseres menschlichen Lebens.