Die Tribute von Panem X. Das Lied von Vogel und Schlange - Das Prequel zur Weltbestseller-Reihe 'Die Tribute von Panem'

von: Suzanne Collins

Verlag Friedrich Oetinger, 2020

ISBN: 9783960521617 , 592 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 15,99 EUR

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Die Tribute von Panem X. Das Lied von Vogel und Schlange - Das Prequel zur Weltbestseller-Reihe 'Die Tribute von Panem'


 

Teil I Der Mentor


1


Coriolanus ließ den Kohl in den Topf mit kochendem Wasser gleiten und schwor sich, ihn eines Tages für immer vom Speiseplan zu verbannen. Doch dieser Tag lag in weiter Ferne. Er musste das schlabbrige Zeug essen und die wässrige Brühe trinken, damit sein Magen während der Erntezeremonie nicht knurrte. Nur eine Vorsichtsmaßnahme von vielen, die darüber hinwegtäuschen sollte, dass seine Familie genauso arm wie der Abschaum aus den Distrikten war, auch wenn sie ein Penthouse in der besten Lage des Kapitols bewohnte. Der Erbe des einst so großen Hauses Snow hatte im Alter von achtzehn Jahren nichts mehr im Leben außer seinen scharfen Verstand.

Das Hemd, das er zur Ernte tragen wollte, machte ihm Sorgen. Er hatte sich letztes Jahr auf dem Schwarzmarkt eine passable dunkle Anzughose gekauft, aber das Hemd sahen die Leute immer zuerst. Die Alltagsuniformen wurden zum Glück von der Akademie gestellt. Zu der heutigen Zeremonie jedoch mussten die Schüler modisch und dem Anlass entsprechend festlich gekleidet erscheinen. Tigris hatte gesagt, er solle ihr vertrauen, und das tat er auch. Seine Cousine, die so geschickt mit Nadel und Faden umgehen konnte, hatte ihn bis jetzt immer gerettet. Aber er konnte keine Wunder erwarten.

Das Hemd seines Vaters, das sie aus dem Wandschrank ausgegraben hatten, war mittlerweile fleckig und vergilbt, die Hälfte der Knöpfe fehlte, eine Manschette hatte einen Brandfleck. Das sollte sein Hemd für die Erntefeierlichkeiten sein? Schon im Morgengrauen war er ins Zimmer seiner Cousine gegangen, hatte aber weder sie noch das Hemd vorgefunden. Kein gutes Zeichen. Hatte Tigris aufgegeben und versuchte jetzt verzweifelt, auf dem Schwarzmarkt noch schnell brauchbaren Ersatz aufzutreiben? Aber was könnte sie schon zum Tausch anbieten? Höchstens sich selbst, doch so tief waren die Snows noch nicht gesunken. Oder sanken sie gerade so tief, während er den Kohl salzte?

Er stellte sich vor, wie gierige Blicke sie verfolgten. Tigris war mit ihrer langen, spitzen Nase und dem mageren Körper keine Schönheit, aber sie strahlte so etwas Zartes und Verletzliches aus, dass es gewisse Männer auf falsche Gedanken brachte. Wenn sie es darauf anlegte, würde sie schon jemanden finden. Bei der Vorstellung fühlte er sich elend und hilflos und ekelte sich vor sich selbst.

Im hinteren Teil der Wohnung wurde die Aufnahme der Hymne des Kapitols, Juwel von Panem, eingeschaltet. Der bebende Sopran seiner Großmutter stimmte ein und schallte durch die Wohnung.

Juwel von Panem,

Mächtige Stadt,

Durch die Zeiten erstrahlst du aufs Neue.

Sie sang etwas zu langsam und wie immer so schief, dass es wehtat. Im ersten Kriegsjahr hatte sie dem fünfjährigen Coriolanus und der achtjährigen Tigris die Aufnahme nur an den Nationalfeiertagen vorgespielt, um ihren Patriotismus zu stärken. Erst seit jenem schwarzen Tag, an dem die Rebellen das Kapitol eingekesselt und zwei Kriegsjahre lang von allen Lebensmittelvorräten abgeschnitten hatten, wurde die Hymne täglich gesungen. »Denkt daran, Kinder«, sagte sie, »wir sind nur belagert – wir haben uns nicht ergeben!« Dann trällerte sie mitten im Bombenhagel die Hymne zum Fenster hinaus. Ihr bescheidener Akt des Widerstands.

Wir knien voll Demut

Vor dir, unserem höchsten Gut.

Und dann die Töne, die sie nie ganz traf:

Und schwören dir unsere Treue!

Coriolanus zuckte leicht zusammen. Seit zehn Jahren waren die Rebellen nun schon ruhig, aber seine Großmutter nicht. Noch zwei Strophen.

Juwel von Panem,

Herz der Gerechtigkeit,

Weisheit deine Stirn aus Marmor krönt.

Er überlegte, ob mehr Möbel den Lärm dämmen würden, aber das war eine rein theoretische Frage. Ihr Penthouse war derzeit ein Mikrokosmos des Kapitols selbst, übersät mit Narben der erbarmungslosen Rebellenangriffe. Risse durchzogen die sieben Meter hohen Wände; wo der Putz abgebröckelt war, klafften Löcher in der schimmligen Decke, und die zerbrochenen Scheiben der Rundbogenfenster, die auf die Stadt hinausgingen, wurden von hässlichem schwarzem Isolierband zusammengehalten. Während des Krieges und der darauffolgenden Jahre war die Familie gezwungen gewesen, einen Großteil ihres Besitzes zu verkaufen oder zu tauschen, sodass einige Räume jetzt leer standen und nicht mehr genutzt wurden, die anderen waren bestenfalls spärlich möbliert. Schlimmer noch, im letzten, bitterkalten Belagerungswinter waren einige erlesene, fein geschnitzte Möbel und zahllose Bücher dem Kaminfeuer geopfert worden, damit die Familie nicht erfror. Jedes Mal, wenn er sah, wie die bunten Seiten der Bilderbücher seiner Kindheit – die er mit seiner Mutter zusammen angeguckt hatte – zu Asche zerfielen, musste er weinen. Aber besser traurig als tot.

Coriolanus besuchte hin und wieder Freunde und wusste daher, dass die meisten Familien ihre Wohnungen allmählich wiederherstellten. Die Snows dagegen konnten sich nicht mal ein paar Meter Leinen für ein neues Hemd leisten. Er dachte an seine Klassenkameraden, wie sie die Kleider aus ihren Schränken holten und in ihre maßgeschneiderten Anzüge stiegen, und fragte sich, wie lange er den Schein noch wahren konnte.

Du schenkst uns Licht,

Ein einig Gesicht.

Ergebenheit aus unseren Herzen tönt.

Was sollte er machen, wenn er das von Tigris umgearbeitete Hemd nicht tragen konnte? Eine Grippe vortäuschen und sich krankmelden? Feige. Im Hemd seiner Uniform antanzen? Respektlos. Sich in das rote Button-down-Hemd quetschen, aus dem er schon vor zwei Jahren rausgewachsen war? Armselig. Welche dieser Optionen kam infrage? Keine.

Vielleicht hatte Tigris ihre Chefin um Hilfe gebeten. Fabricia Whatnot, eine Frau, so lächerlich wie ihr Name, hatte ein gewisses Talent, alte Kleidung neu zu erfinden. Ob nun gerade Federn im Trend lagen, Leder, Plüsch oder Plastik, sie konnte jeden Stoff zu einem vernünftigen Preis einarbeiten. Tigris, die nie eine gute Schülerin gewesen war, hatte sich nach ihrem Abschluss an der Akademie nicht an der Universität eingeschrieben, sondern verfolgte den Traum, Designerin zu werden. Offiziell machte sie eine Ausbildung, doch Fabricia behandelte sie eher wie eine Sklavin. Tigris musste ihrer Chefin die Füße massieren und die Abflüsse von den Klumpen ihrer magentafarbenen Haare befreien. Aber Tigris beklagte sich nie und ließ nichts auf ihre Chefin kommen, so dankbar war sie, eine Stelle in der Modewelt zu haben.

Juwel von Panem,

Zentrum der Macht,

In Krieg und Frieden unser Idol.

Coriolanus öffnete den Kühlschrank in der Hoffnung, etwas zu finden, womit er die Kohlsuppe ein wenig aufpeppen könnte. Doch er fand nur einen eisernen Kochtopf. Als er den Deckel hochhob, blickte er in eine erstarrte Pampe aus geraspelten Kartoffeln. Hatte seine Großmutter ihre Drohung, kochen zu lernen, wahr gemacht? War das überhaupt essbar? Skeptisch legte er den Deckel wieder auf den Topf. Was für ein Luxus es wäre, das Zeug, ohne zu überlegen, einfach in den Müll zu kippen. Was für ein Luxus Müll wäre. Er erinnerte sich, oder glaubte sich zu erinnern, wie er als kleiner Junge Müllwagen beobachtet hatte, die von Avoxen bedient wurden – Arbeiter ohne Zunge waren die besten, das behauptete jedenfalls seine Großmutter. Sie wummerten durch die Straßen, leerten große Säcke mit weggeworfenem Essen, Verpackungen und abgenutzten Haushaltswaren. Dann kam die Zeit, als man auf nichts mehr verzichten konnte, als es nichts gab, was nicht entweder getauscht, fürs Ofenfeuer verwendet oder zum Isolieren an die Wand genagelt wurde. Man hatte gelernt, Verschwendung zu verachten. Doch so langsam kam sie wieder in Mode. Ein Zeichen von Wohlstand, wie ein ordentliches Hemd.

Schütze unser Land,

Mit bewaffneter Hand,

Das Hemd. Das Hemd. Seine Gedanken konnten sich in solchen Problemen verbeißen und sie nicht mehr loslassen. Als würde es ihn vor dem Untergang retten, diesen winzigen Teil seiner Welt zu beherrschen. Eine schlechte Angewohnheit, die ihn von Zeit zu Zeit blind für wirkliche Gefahren machte. Diese Neigung zur Besessenheit war tief in ihm verankert und würde ihn noch ins Verderben stürzen, wenn er sie nicht überwand.

Seine Großmutter piepste das finale Crescendo heraus.

Du bist unser Leben, oh Kapitol!

Diese verrückte alte Frau, die sich immer noch an die alten Zeiten vor dem Krieg klammerte. Er liebte seine Großmutter, aber den Bezug zur Wirklichkeit hatte sie schon vor Jahren verloren. Bei jeder Mahlzeit faselte sie etwas von der legendären Größe der Snows, auch wenn ihr Mahl nur aus wässriger Bohnensuppe mit muffigen Kräckern bestand. Dass eine glorreiche Zukunft vor ihm lag, stand für seine Großmutter außer Frage. »Wenn Coriolanus erst Präsident ist …«, begannen ihre Sätze häufig. »Wenn Coriolanus erst Präsident ist …«, würde sich alles, von der klapprigen Luftwaffe des Kapitols bis zu den astronomischen Preisen für Schweinekoteletts, auf magische Weise zum Guten wenden. Glücklicherweise hinderten sie der defekte Aufzug und ihre arthritischen Knie daran, öfter vor die Tür zu gehen, und ihre seltenen Besucher waren ebenso aus der Zeit gefallen wie sie selbst.

Der Kohl fing an zu köcheln und erfüllte die Küche mit dem Geruch der Armut. Coriolanus stieß mit einem Holzlöffel hinein. Immer noch keine Tigris. Nicht mehr lange, und es wäre zu spät, um anzurufen und sich zu entschuldigen. Dann hätten sich schon alle in der Heavensbee Hall, der großen Aula der Akademie, versammelt. Dann würden ihn Ärger und Enttäuschung seiner...