Lebenswelten von Menschen mit Migrationserfahrung und Demenz

von: Olivia Dibelius, Erika Feldhaus-Blumin, Gudrun Piechotta-Henze

Hogrefe AG, 2015

ISBN: 9783456755465 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 21,99 EUR

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Lebenswelten von Menschen mit Migrationserfahrung und Demenz


 

2Versorgungsstrukturen für Menschen mit Demenz in der Türkei


Türkan Y?lmaz und Deniz Pamuk1

2.1 Einführung


Die Zahl der älteren Menschen nimmt auch in der Türkei zu. Bei einem Vergleich der demografischen Entwicklung mit europäischen Ländern fällt auf, dass die Türkei zwar noch eine junge Bevölkerung hat, betrachtet man aber die Daten des Statistischen Amtes der Türkei, zeigt sich auch, dass ein rapider Anstieg der Älteren zu verzeichnen ist.

Während 2007 die Einwohnerzahl der Türkei bei 70,5 Millionen lag, stieg sie im Jahre 2013 auf 76,5 Millionen an. 2007 lag die Zahl derer, die 65 Jahre und älter waren, bei 5 Millionen, 2013 lag sie bei 6 Millionen In 6 Jahren nahm die Bevölkerung um 6,5 Millionen zu; 1 Million davon machen allein die Menschen aus, die 65 Jahre und älter sind (TÜIK, 2013)2. Der Bevölkerungszuwachs ist demnach nicht auf die Neugeborenen zurückzuführen, sondern auf die Generation 65+.

Die 6 Millionen Menschen, die in der Türkei im Jahre 2013 65 Jahre und älter waren, machten 9% der türkischen Gesamtbevölkerung aus. Da die Bevölkerung insgesamt weiterhin wächst, blieb der «versteckte Alterungsprozess» trotz Anstieg des prozentualen Anteils der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung, vorerst unbemerkt. Im Jahre 2050 wird die Gesamtbevölkerung voraussichtlich ca. 86 Millionen Personen betragen. Der Anteil der über 65-Jährigen wird dann aller Wahrscheinlichkeit nach von derzeit ca. 8% auf ca. 19% ansteigen (TÜIK, 2013). Alle diese Prognosen zeigen, dass die Türkei im Jahre 2050 mit unter den Ländern sein wird, die die älteste Bevölkerung der Welt haben (Arun, 2014: 3).

Es gibt nur sehr wenige Informationen über die Verbreitung und Verteilung von demenziell erkrankten Menschen in der Türkei. Statistische Daten sind primär über Menschen mit Behinderung zu finden, über die von der Alzheimer-Krankheit und anderen Formen von Demenz betroffenen Personen existiert keine statistische Datenbasis (Tufan, 2011: 19). Auf Landesebene gibt es keine Studien zu diesem Thema. Informationen beruhen auf Arbeiten, die in einigen Städten durchgeführt worden sind und auf deskriptiven Statistiken basieren (Bulut, Ekici, Polat ve di?erleri, 2002; Arslanta? ve di?erleri, 2009; Harmanc? ve di?erleri, 2003; Keskino?lu ve di?erleri, 2006; Gurvit ve di?erleri, 2008).

Die Notwendigkeit für ein öffentliches Bewusstsein steigt mit jedem Tag, dennoch sind Bemühungen rund um die ständig wachsenden Bedarfe für Menschen mit Demenz bislang nur von bestimmten Einrichtungen und Verbänden zu verzeichnen.

In diesem Kapitel wird vor allem das Erbringen von Pflege und Pflegeleistungen beleuchtet und es werden Projekte dargestellt und wissenschaftliche Untersuchungen analysiert.

Die Begriffe «Alzheimer» und «Demenz» werden in der türkischen Sprache oft synonym gebraucht, obwohl die Alzheimer-Krankheit eine Demenzform ist. In diesem Kapitel wird, sofern nicht explizit differenziert, die synonyme Begriffsverwendung beibehalten.

2.2 Demenz in der Türkei: ein Überblick


In der Pressemitteilung vom 21. September 2014 hat die Psychiatrische Vereinigung der Türkei erklärt, dass die Türkei für die erforderlichen Versorgungsbedürfnisse der schnell wachsenden älteren Bevölkerung nicht gerüstet ist. Laut dieser Erklärung wird im Rahmen einer Diagnose die erste Stufe der «Krankheit im Alter» beurteilt, in der fortgeschrittenen Phase von Auffälligkeiten wird dann von «Demenz» gesprochen (TPD3, Abteilung Geriatrische Studien, 2014).

Vor allem in Landesregionen mit wirtschaftlichem Entwicklungsrückstand hinkt die Rate von Menschen mit anerkannter Demenzsymptomatik den höher entwickelten Regionen in der Türkei und den westlichen Gesellschaften hinterher. Welche Gründe sind hierfür zu vermuten? Sicherlich besteht in der Türkei eine Verknüpfung zwischen soziokulturellem Status und abnehmender geistiger Funktion im Alter, infolge dessen wird mit Demenz eine Schwächung der patriarchalen Strukturen in der Gesellschaft hergestellt (Bulut et al., 2002: 106–107). Wenn Demenz sowohl in der Öffentlichkeit als auch vom Ministerium für Familie und Sozialpolitik nur als eine Form der altersbedingten Krankheiten und als «Vergesslichkeit» («bunama») beschrieben wird, schafft dies Bedingungen für ein Zusammenspiel von Demenz und Altersdiskriminierung (Butler, 1969, 1989).

Außerdem wird Demenz durch das Ministerium für Familie und Sozialpolitik im Bereich der mentalen und emotionalen Behinderung als Krankheitskategorie definiert. Einige Beispiele für weitere Krankheiten in dieser Kategorie sind geistige Behinderung, Schizophrenie, Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität, Autismus, Drogenmissbrauch4. Allerdings werden Personen, die in Pflegeeinrichtungen leben, mit geistiger und körperlicher Krankheit klassifiziert. Weil das Pflegepersonal die Einstufung ebenfalls verwendet, verhindert dies den Erwerb von adäquatem krankheitsspezifischem Wissen und von Pflegekompetenzen im Umgang und in der Pflege von Menschen mit Demenz. Um derlei Missverständnissen und Lücken begegnen zu können, fehlt es an einer nationalen Demenzstrategie staatlicher oder nichtstaatlicher Organisationen.

Auf politischer Ebene ist zumindest vereinzelt die Bedeutung von Sozialprogrammen für den Demenzbereich bekannt und anerkannt (Alzheimer Europe, 2013). Außerdem hat die Türkische Alzheimer-Gesellschaft im Jahre 2010 eine Strategie entwickelt. Deren wichtigste Ziele sind:

  • Sensibilisierung auf allen Ebenen der Gesellschaft
  • Unterstützung der Entwicklung von Kurzzeitpflege, Tagespflege und Pflegeheimen
  • Informierung der – neu eingerichteten – Familienärzte
  • Förderung der Zusammenarbeit von Einzelpersonen, die an der Alzheimer-Krankheit leiden, und deren Familien mit den Gesetzgebern (Alzheimer Europe, 2013; Alzheimer Derne?i, 2010).

In Vorbereitung ist ein «Nationaler Aktionsplan Alzheimer». Hierfür arbeiten das türkische Gesundheitsministerium, das Ministerium für Familie und Sozialpolitik, Universitäten und Nicht-Regierungsorganisationen, zusammen. Im Rahmen des Aktionsplans sollen Tagespflegezentren, Pflegeheime und Häusliche Pflege konzipiert und in der Praxis umgesetzt sowie die Dienstleistungen statistisch dokumentiert und evaluiert werden (Erbay, 2012: 6).

Da sich die verschiedenen Versorgungsmöglichkeiten älterer Menschen in der Türkei – sowohl begrifflich als auch von der Struktur und vom Verständnis her – von deutschen unterscheiden, folgt hier eine kurze Übersicht der türkischen Versorgungsformen mit deutschen Übersetzungen:

Huzurevi (Zufriedenheitshäuser; Städtische Altenheime): In diesen städtischen Institutionen leben 60-jährige und ältere Personen (60+), die nicht pflegebedürftig und in der Lage sind, ihre Alltagsbedürfnisse selbstständig zu erfüllen. Eine weitere Voraussetzung für die Aufnahme ist, dass sie Sozialhilfe erhalten. In diesen Heimen werden sehr viele Alltagsaktivitäten angeboten, vorhanden sind unter anderem Bücherei, Gebetsräume, Frisör, Schneider, Ruheräume, Hobbyräume.

Ya?l? Bak?m ve Rehabilitasyon Merkezi (Altenpflege- und Rehabilitationszentren): Die Zentren sind für ältere Personen, die ihre Aktivitäten des täglichen Lebens auch nach der Rehabilitation selbstständig durchführen können. Wird eine Person pflegebedürftig, zieht sie in ein Pflegeheim (Bakýmevi) oder in eine private Pflegeabteilung.

Bak?mevi (Pflegeheim): Im Pflegeheim werden pflegebedürftige Menschen ohne Altersbegrenzung aufgenommen. Diese Heime sind meistens in privater Hand, es gibt nur eine geringe Anzahl von öffentlichen Pflegeheimen. Die Gemeinden übernehmen die Pflegekosten, vorausgesetzt, die in den privaten Heimen lebenden Menschen verfügen über ein Einkommen, das unter 400 Türkischen Lira (TL; ca. 140 €) liegt.

2.3 Versorgung von Menschen mit Demenz


Wie in vielen Ländern wird auch in der Türkei die Altenpflege als Aufgabe der Familie wahrgenommen (Devlet Planlama Te?kilat?, 2007: 51). Entwicklungen in den therapeutischen Anwendungen, wirtschaftliche und politische Ansätze, neue Service-Konzepte verursachen immer mehr Betreuungsaufgaben, vor allem bei vielen chronischen Krankheiten, die primär von der Familie und weiteren Verwandten übernommen werden. Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Krankheit, die dazu führt, dass Familienmitglieder für die Pflege verantwortlich sind; überwiegend handelt es sich um weibliche Bezugspersonen (Akyar/Akdemir, 2009: 33; Erbay, 2012: 2).

Allerdings existieren in der gegenwärtigen türkischen Gesellschaft die Familien nicht mehr als Großfamilie und die Frauen sind in der Mehrzahl berufstätig. Entsprechend wächst mehr und mehr der Bedarf an Pflegeeinrichtungen. Die (noch) pflegenden Frauen müssen zwischen den eigenen Bedürfnissen und der Verantwortung für ihre an Demenz erkrankten Familienangehörigen balancieren (Arpac?, 2009: 64).

Heute bieten verschiedene Institutionen des Ministeriums für Familie...