Dynamit des Geistes - Martyrium, Islam und Nihilismus

von: Navid Kermani

Wallstein Verlag, 2013

ISBN: 9783835306875 , 72 Seiten

4. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 6,99 EUR

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Dynamit des Geistes - Martyrium, Islam und Nihilismus


 

Dynamit des Geistes (S. 7)

»Gott selbst ward Nihilist.« Friedrich Nietzsche

Die erste Geschichte beginnt am Morgen des dritten Oktobers 680 in der Ebene von Kerbela im heutigen Irak. Damals stand der Enkel des Propheten und dritte Imam der Schiiten, Hussein ibn Ali, mehreren tausend Soldaten des umayyadischen Kalifen Yazid gegenüber.

Der Konflikt zwischen Hussein und Yazid, dem Imam und dem Kalifen, hat das Schisma der Muslime, die damals noch nicht formal in Sunniten und Schiiten geteilt waren, besiegelt. Entbrannt war der Streit eine Generation zuvor.

Die Schia, die »Partei« Ali ibn Abi Talibs, erklärte ihn, den angesehenen Cousin und Schwiegersohn des Propheten, zum göttlich vorgesehenen Führer der Gemeinde, während die Vorfahren der Sunniten das Kalifat akzeptierten, das Mu‘awiya ibn Abi Sufyan in Damaskus, fern von Mekka also und ohne religiöse Weihe, ausrief.

Ali war erdolcht, sein Sohn Hassan wohl vergiftet worden, nun herrschte Yazid, der Sohn Mu‘awiyas. Die Einwohner von Kufa weigerten sich jedoch, dem Kalifen zu huldigen, den sie als Tyrannen und Verräter an der Botschaft des Propheten verachteten.

Sie riefen Hussein zu Hilfe, den zweiten Sohn Alis, der bis dahin ein zurückgezogenes Leben in Mekka geführt hatte. Die Bücher beschreiben ihn als sanften, feingeistigen Mann, nicht als Krieger, der sich jedoch dem Hilferuf der bedrängten Bevölkerung von Kufa nicht entziehen konnte.

Also brach der Enkel des Propheten am 9. September 680 mit seiner Familie, vierzig Reitern und hundert Mann zu Fuß auf, um gemeinsam mit den Kufanern das Erbe seines Großvaters zu retten. Am 2. Oktober, dem 2. Moharram des Jahres 61 nach islamischer Zeitrechnung, lagert die Karawane Husseins bei Kerbela, einem Flecken am Euphrat, siebzig Kilometer süd-lich von Kufa. Dort spürt sie am nächsten Tag das umayyadische Heer auf und versperrt ihnen den Zugang zum nahen Fluß, der Wasservorrat ist bald aufgebraucht, kein Schatten lindert die Hitze, nicht nur die Kinder leiden entsetzlich. Vergeblich wartet Hussein auf die versprochene Unterstützung aus Kufa.

Wahrscheinlich weiß er nicht, daß der dortige Gouverneur, vom Aufbruch Husseins aus Mekka aufgescheucht, die Bevölkerung inzwischen terrorisiert und unter anderem Husseins Vetter Muslim ibn Aqil hingerichtet hat. Kein Kufaner wagt oder vermag es mehr, dem Imam zu Hilfe zu kommen. Derart im Stich gelassen, wird Hussein vom umayyadischen General Umar ibn Sa‘d in tagelangen Verhandlungen zur Anerkennung Yazids gedrängt – ohne Erfolg.

Als daraufhin die Schlacht unvermeidlich geworden ist, entläßt Hussein – im sicheren Wissen um den Ausgang des bevorstehenden Kampfes und vom Durst bereits stark geschwächt – seine Gefährten aus dem Treueschwur und fordert sie auf, dem bevorstehenden Massaker zu entfliehen. Dieses Detail ist für das Thema des vorliegenden Aufsatzes sehr wichtig: Hussein will seine zweiundsiebzig übriggebliebenen Gefährten überreden, nicht den Märtyrertod zu sterben.

Die Gefährten weigern sich jedoch, Hussein allein der feindlichen Armee zu überlassen, und so ziehen sie am Morgen des 10. Moharram gemeinsam in eine Schlacht, die keiner von ihnen überlebt.1 Angefangen mit dem Schriftsteller und Rassentheoretiker Arthur Comte de Gobineau, der im dreizehnten Kapitel seines berühmten Werkes Les religions et les philosophies dans l’Asie centrale das Geschehen von Kerbela als eine griechische Tragödie interpretierte, haben westliche und iranische Gelehrte wiederholt die Frage nach der Freiheit Husseins diskutiert.

Betonten die einen, daß der Imam wissentlich nach Kerbela und damit freiwillig in sein Verderben gezogen, daß er auf dem Weg gewarnt worden sei, sehen die anderen in ihm einen mutigen, aber nicht tollkühnen Helden, der beim Auszug aus Mekka gute Gründe hatte, auf die aufständische Bevölkerung von Kufa zu hoffen.