Die Suche - Kriminalroman -

von: Charlotte Link

Blanvalet, 2018

ISBN: 9783641232054 , 656 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Die Suche - Kriminalroman -


 

FREITAG, 13. OKTOBER 2017

1

»Asoziale«, sagte die alte Dame und verzog angewidert das Gesicht. »So sieht das aus. Du lieber Gott. Aber ich fand Ihre Mieter ja von Anfang an sehr seltsam. Ich hatte kein gutes Gefühl.«

Kate Linville stand im Wohnzimmer ihres Elternhauses in Scalby, einem Vorort von Scarborough, und schaute sich fassungslos um. Sie war Polizistin, und sie hatte schon viel gesehen, vor allem viel Unschönes, aber das hier übertraf alles: Leere Konservendosen, die sich in den Ecken stapelten, angegessene Pizzareste auf Papptellern, Flaschen mit Alkohol, die teilweise umgekippt waren und deren Inhalt große hässliche Flecken auf dem Teppich hinterlassen hatte. Eine Katzentoilette, die seit Monaten niemand mehr gesäubert haben konnte. Klamottenberge. Unterwäsche auf dem Fensterbrett. Erbrochenes auf einem Sessel. Und mit etwas, das in der Farbgebung an getrocknetes Blut erinnerte, hatte jemand einen obszönen Text an die Wand gekritzelt, der nur in Teilen zu entziffern war, aber mindestens fünfmal das Wort Fuck enthielt.

»Oh Gott«, sagte Kate. War es schlimmer als alles, was sie kannte? Oder war sie persönlich betroffen, und das machte es so schlimm? Sie ahnte, dass sie einfach losgeheult hätte, stünde nicht die Nachbarin neben ihr. Kate war selten zu Gefühlsäußerungen in der Gegenwart anderer fähig.

»Die Küche ist noch mehr verwüstet«, sagte die Nachbarin. Sie hatte immer einen Ersatzschlüssel besessen, schon zu Lebzeiten von Kates Vater, und daran hatte sich nie etwas geändert. Sie war es, die Kate in London angerufen hatte.

»Ihre Mieter habe ich seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Es stapeln sich Milchflaschen vor der Haustür. Der Briefkasten quillt auch über. Und ich habe die Katze maunzen gehört. Da stimmt etwas nicht. Soll ich rübergehen?«

Kate hatte ihr Okay gegeben. Zwanzig Minuten später hatte die Nachbarin erneut angerufen. »Sie sollten herkommen. Schnell!«

Kate, Detective Sergeant bei Scotland Yard, hatte sich ein paar Tage Urlaub genommen, was angesichts der extremen Arbeitsüberlastung in der ganzen Abteilung zu hochgezogenen Augenbrauen bei ihrem Chef geführt hatte.

»Das Haus, das ich von meinem Vater geerbt habe. Ich hatte es vermietet. Nun sind die Mieter offenbar verschwunden und haben die völlige Verwüstung hinterlassen. Ich muss mich darum kümmern, es hilft nichts.«

Der Chef wirkte irritiert. »Ich dachte, Sie hätten das Haus längst verkauft?«

»Nein«, musste Kate einräumen.

Sie hatte den Urlaub bewilligt bekommen. Und jetzt, als sie der Nachbarin in die Küche folgte und vor dem Dreck und dem Gestank zurückzuckte – es war schlimmer als auf einer Mülldeponie –, fragte sie sich, ob das nun einfach die gerechte Quittung für ihre Schwäche war. Ja, sie hatte das Haus verkaufen wollen. Und nein, sie hatte es nicht geschafft. Hatte sich dafür entschieden, es zu vermieten, obwohl sie wusste, dass das zu Ärger führen konnte. Nicht, dass sie sich eine solche Katastrophe vorgestellt hätte wie die, der sie nun gegenüberstand. Aber Häuser verursachten Kosten, brauchten ständig Reparaturen, und wenn man Pech hatte, geriet man an Mieter, die wegen jedes tropfenden Wasserhahns und jeder knarrenden Bodendiele anriefen und sofortige Maßnahmen verlangten. Trotzdem, sie hatte es riskiert. Weil sie das Haus ihrer Eltern nicht hergeben konnte, noch nicht. Ihre Mutter war in diesem Haus nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Ihr Vater war in diesem Haus auf grausame Weise ermordet worden. Kate hatte dieses Verbrechen drei Jahre zuvor aufgeklärt und dabei manches über die Vergangenheit ihres Vaters erfahren, was sie in ihrer Verklärung seiner Person erschüttert hatte. Und dennoch … sie war noch nicht so weit gewesen. Sie hatte einfach noch nicht endgültig loslassen können.

»Irgendwie bin es immer ich, die herausfindet, wenn hier etwas nicht stimmt«, sagte die Nachbarin. Sie zog ein Taschentuch hervor und presste es gegen ihre Nase. »Das ist ja furchtbar, dieser Gestank! Ich habe es damals entdeckt, als Ihr Vater umgebracht worden war, und jetzt ist mir auch aufgefallen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Immer ich!« Es klang fast anklagend.

Na ja, du beschäftigst dich auch ständig mit allem, was in deiner Nachbarschaft geschieht, dachte Kate gereizt, hier kann überhaupt niemand irgendetwas tun, was du nicht sofort bemerkst!

Sie bemühte sich, ihren Ärger nicht spürbar werden zu lassen. Es war ungerecht. Sie konnte der alten Frau dankbar sein.

»Ich hoffe, das war das letzte Mal, dass Sie hier unangenehme Entdeckungen machen mussten«, sagte sie.

»Wer weiß …« Die Nachbarin zuckte mit den Schultern. Kate argwöhnte, dass sie die Situation in Wahrheit genoss. Endlich ein wenig Abwechslung in ihrem eintönigen, einsamen Dasein.

Die beiden Frauen setzten den deprimierenden Rundgang durch das Haus fort. Es war überall dasselbe, auch in den Schlafzimmern im ersten Stock. Hauptsächlich schmutzige Wäsche und vergammeltes Essen. Herausgerissene Elektrokabel, abgeschraubte Fenstergriffe, kaputte Türklinken. Die Badezimmertür war aufgebrochen worden und hing schief an nur noch einem intakten Scharnier. Im Bad selbst hatte schon lange niemand mehr die Toilettenspülung betätigt, der Gestank hob sekundenlang Kates Magen. Sie erhaschte einen Blick auf sich im Spiegel über dem Waschbecken: Sie war weiß im Gesicht und glänzte von Schweiß. Ihre Haare über der Stirn waren feucht.

»Das ist … unfassbar«, sagte sie mühsam.

Die Nachbarin, noch immer das Taschentuch vor der Nase, nickte. »Die Badewanne ist auch total verdreckt«, murmelte sie undeutlich.

In der Wanne stand fußhoch das Wasser. Irgendetwas schwamm darin herum, es schien sich um Erbrochenes zu handeln.

»Was haben die denn hier gemacht?«, fragte Kate fassungslos.

Sie hatte die Mieter damals kennengelernt. Ein Mann und eine Frau, beide um die dreißig. Nicht besonders sympathisch, aber auch nicht wirklich unangenehm. Etwas undurchsichtig vielleicht. Er hatte erklärt, gerade auf Jobsuche zu sein, aber sie hatte einen Arbeitsvertrag mit einer Baufirma vorlegen und ein festes Einkommen nachweisen können. Tatsächlich war die Miete zwar nicht immer pünktlich, aber letzten Endes einigermaßen verlässlich eingegangen. Kate war erleichtert gewesen, weil sich die Mieter nie meldeten. Sie brachten keine Beanstandungen vor und waren bereit gewesen, das Haus möbliert zu übernehmen.

Vielleicht hätte mich das misstrauisch machen sollen, dachte Kate nun, dass sie keine eigenen Möbel hatten und dass sie sich nie über irgendetwas beschwerten.

Im ehemaligen Schlafzimmer ihrer Eltern entdeckten sie die Katze, die offenbar unversorgt zurückgelassen worden war. Klein, zart, kohlschwarz. Sie hatte die Zeit überstehen können, weil sie sich vermutlich von den vielen Essensresten ringsum ernährt hatte. Sie sah verwahrlost aus. Sie lag in dem ungemachten Bett zwischen Bettwäsche, die vor Dreck stand, und gab leise Klagelaute von sich.

»Die haben sich nicht mal Gedanken um ihre Katze gemacht«, sagte Kate.

»Ich habe ihr gestern etwas Milch rübergebracht«, sagte die Nachbarin. »Aber sie kann nicht zu mir. Ich bin allergisch gegen Katzen!« Wie zum Beweis nieste sie.

Kate verspürte den nahezu überwältigend starken Wunsch, sich einfach in einer Ecke niederzukauern, das Gesicht in den Händen zu vergraben und zu warten, dass irgendjemand kam, der ihr sagte, er werde sich um alles kümmern und sie solle sich keine Gedanken machen. Sie wünschte sich ein Wunder, das dafür sorgen würde, dass sich all der Schmutz und die Verwüstung in Luft auflösten, dass dieses hübsche kleine Haus, in dem sie aufgewachsen war, wie durch Zauberhand wieder zu dem gemütlichen Heim wurde, das es immer für sie gewesen war. All die Jahre hindurch hatte Kate dieses Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit gehabt, wenn sie hier ankam – wenn sie der Kälte ihrer Londoner Wohnung, der Einsamkeit ihres Lebens, den beruflichen Problemen entkam und eintauchte in etwas, das vergangen war und trotzdem noch immer wärmte. Das würde nie wieder so sein, das begriff sie in diesen Momenten. Selbst wenn sie alle Schäden beseitigt hätte, wenn alles wieder schön und ordentlich war, würde diese Verletzung bleiben. Die zweite Verletzung nach der Ermordung ihres Vaters. Irgendwann erholten sich ein Haus und seine Atmosphäre nicht mehr.

Es würde niemand kommen und ihr helfen. Sie war alleine mit dem Problem. Sie riss sich zusammen. Es ging nicht, dass sie sich in die Ecke kauerte. Sie musste sich die nächsten Schritte überlegen.

Es gab einen einzigen Vorteil inmitten der ganzen Misere: Ein halbwegs ordnungsgemäßes Kündigungsschreiben der Mieter, das auf dem Tisch im Wohnzimmer lag und an Kate adressiert war. Kate wollte es noch einem Juristen zeigen, aber sie nahm an, dass sie damit wieder das alleinige Verfügungsrecht über das Haus besaß. Die Kündigung eines Mietverhältnisses gegenüber Mietern, deren Aufenthaltsort unbekannt war, hätte eine Kette von zermürbenden Problemen nach sich gezogen.

»Wo wollen Sie denn die nächsten Tage wohnen?«, fragte die Nachbarin. »Hier können Sie ja nicht leben.«

»Ich suche mir ein Bed & Breakfast. Um diese Zeit müsste vieles frei sein. Dann engagiere ich ein Entrümpelungsunternehmen. Ich lasse das Haus entkernen. Alles andere hat keinen Sinn.«

»Das wird teuer!«

»Klar. Aber ich habe ja keine Wahl.«

»Werden Sie die Mieter anzeigen?«

Kate nickte. »Natürlich. Aber ich habe nicht allzu viel Hoffnung, dass man sie auffinden...