Pink Christmas 7 - Andere Weihnachtsgeschichten

von: Martin F. Falken, Manuel Sandrino, Kai Steiner, Hans van der Geest, Udo Rauchfleisch, Marc Förster

Himmelstürmer Verlag, 2017

ISBN: 9783863616663 , 180 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Pink Christmas 7 - Andere Weihnachtsgeschichten


 


 
Le Garçon sans Pantalon


Niemand weiß, woher er kommt, noch wohin er will. Erblickt man ihn, fällt er sofort auf, doch man hat ihn sofort vergessen, rückt er aus dem Blickfeld. So auffallend seine Erscheinung auch ist, er hinterlässt keine Abdrücke in der Erinnerung noch Fußspuren im täglichen Leben. Von ihm als einer flüchtigen Idee zu sprechen oder einer Ahnung im Bewusstsein, beschreibt ihn auch nicht wirklich. Einige verbringen längere Zeit mit ihm, leben mit ihm zusammen und fühlen sich ihm näher als einem Geliebten.

Er ist kein Gespenst, auch keine Einbildung oder ein Fantasiefreund. Er ist real – sehr real sogar. Aber jeder nimmt die Realität anders wahr – so auch ihn. Wen immer er besucht, dessen Leben verändert sich; es wird nicht beendet, doch dennoch sterben alte Wege, Muster und selbst Beziehungen ab. Er ist weder der Tod noch Pestilenz oder Krankheit. Er ist das pure Leben, so gewaltig belebend, dass niemand von ihm verschont bleibt. Trotzdem weichen ihm alle aus, verstecken sich, wenn er auftaucht oder ergreifen bei seiner bloßen Erwähnung die Flucht. Doch wie will man vor etwas weglaufen, dass sich nur dann und nur dem zeigt, der ihn gerufen hat?

Tobias hat ihn gerufen.

Wann? Dass hat der arbeitslose Bachelor mit Philosophie-Abschluss längst vergessen. Als er dann eines Tages – heute – in Verkleidung vor ihm steht, erkennt ihn Tobias natürlich nicht.

 

„Tobias, jetzt raff dich auf!“, beschwört mich Attila am Telefon.

„Du willst in die Stadt? Ne, vergiss es!“, antworte ich. „Heute ist Heiligabend. Jeder muss noch in letzter Minute Geschenke horten, überall jammern die grässlichen Sänger der Heilsarme ihre Klagelieder und fanatische Jungchristen frohlocken Halleluja singend in Chören auf den Plätzen der Innenstadt. Nein! Heute werde ich definitiv zu Hause bleiben!“

„Nie bist du spontan!“, tadelt mich Attila. „Da studierst du seit Jahren Philosophie, doch bis auf das Zitieren irgendwelcher toten Denker und Gedankenakrobaten, hast du vollkommen verlernt, das Leben mit seinen Überraschungen zu schätzen!“

„Ich will keine Nikoläuse umarmen oder mir die letzten Franken für sogenannte gute Zwecke aus der Tasche schwatzen lassen. Weihnachten ist nicht mein Ding.“

„Aber was ist dein Ding?“, kontert Attila. „Immer hast du Ausreden Neues, auszuprobieren. Entweder sind deine Haare, dein Schwanz oder irgendetwas anderes Schuld.“

„Du weißt, wie ich darüber denke! Ich will kein Freak sein!“

„Der Freak hat nichts mit deinem Äußeren zu tun.“

„Ich will nicht darüber reden!“, fahre ich Attila übers Wort.

„Früher warst du ganz anders! Toby, die Eier, die du ausbrütest, sind längst über das Verfalldatum hinaus.“

„Mit meinen Eiern ist alles in Ordnung!“

Attila sprach noch nie so direkt. Hat er Liebeskummer? Verfällt er der Weihnachtsdepression oder fühlt er den kommenden Schnee?

„Toby, ich bin dein ältester Freund. Wach auf! Du bist ein Langweiler geworden, seit du dich als schwuler Mann geoutet hast. Ändere das! Wage heute etwas vollkommen Verrücktes!“

„An Heiligabend in die Stadt zu gehen? Das ist verrückt!“

„Mann, du bist erst fünfundzwanzig und lebst wie ein pensionierter Greis. Vergiss deine Bücher! Es ist unwichtig, was irgendwer irgendwann zu irgendwem gesagt haben könnte.“

Will mich Attila einmal mehr zu dem Freund formen, der in seine Schublade passt? Natürlich habe ich mich verändert! Ich bin erwachsen geworden, vernünftig und realistisch. Trotzdem rinnen mir Tränen über die Wangen. Ich bin froh, dass mich Attila übers Telefon nicht sehen kann. „Aber …“

„Nichts aber! Folge einmal deiner Spontanität und lasse dich von ihr führen. Das Glück kommt zu dem, der es sich schnappt!“

„Schöne Weihnachten!“, will ich beenden.

„Verdammt noch mal, erwache aus deinem komatösen Selbstmitleid! Du bist nicht der einzige Bachelor, der keinen Job oder festen Freund hat! Zuhause findest du keines von beidem. Nur du kannst etwas verändern. Nur du! Nur du! Nur du!“, wiederholt Attila dreimal, als ob er mich hypnotisieren möchte.

„Ja, ja! Ciao!“ Damit drücke ich ihn weg, wische mir Tränen aus den Augen und stelle mich unter die Dusche.

 

Später, ich muss noch Lebensmittel einkaufen, vor einem Kaufhaus, höre ich: „Haben Sie Kleingeld?“

Genervt suche ich nach Ausweichmöglichkeiten.

„Die Suche nach Glück ist die Jagd nach Erleuchtung! Erleuchtung beginnt immer damit, sich hier und jetzt so anzunehmen wie man ist.“

Egal wie sehr ich versuche zu denken, es tauchen weder Worte noch Bilder in meinem Kopf auf – nur Leere; ein gewaltiges bodenloses Nichts. Verliere ich meinen Verstand? Bestimmt spüre ich den kommenden Schnee.

„Erkennst du das Glück?“, will der Penner jetzt wissen.

Weil ich nicht antworte, bohrt sich sein Blick in mich. Seine Augen sind vollkommen schwarz. Hat er Drogen genommen?

„Hast du Kleingeld?“, wiederholt er seine Eingangsfrage.

Dummerweise höre ich Attila in meinen Gedanken: Verdammt noch mal, erwache aus deinem komatösen Selbstmitleid! Nur du kannst etwas verändern. Nur du! Nur du! Nur du! Warum ich meinen Geldbeutel zücke, muss Mitleid sein. Auch das noch! Ich habe keine Münzen, nur Scheine. Nein, nur einen Schein.

„Warum zögerst du?“, will der kahlköpfige Bettler wissen, dem nur vorne eine einzelne Locke ins Gesicht hängt. „Junge, heute hast du die Chance, alles zu verändern. Aber du musst bereit sein, dafür zu bezahlen!“

Diese Masche kenne ich noch nicht.

„Die Währung ist die Akzeptanz wer, was und wie du bist!“

„Natürlich! Was sonst?“

Plötzlich bohrt der Bettler seinen Finger in meine Brust. „In dir stecken ungenutzte Stärken und Talente. Nutze sie! Schau in den Spiegel und mache das Beste aus dem, was dir in die Wiege gelegt wurde!“

„Ja, ja!“ Was tun? Soll ich dem Bettler meine letzten zehn Franken geben? Ich tue es.

„Bist du sicher?“, fragt er verwundert.

Natürlich nicht! „Weil heute Heiligabend ist!“

Der kahlköpfige Penner mit der komischen Locke sackt mein Geld ein und wendet sich ohne Dank ab. Ich wirble herum und packe ihn. Statt der Kapuze seines Mantels erwische ich seine Locken. Komischerweise lacht er laut auf, kramt in einer seiner Manteltaschen und steckt mir etwas zu.

„Hier, dein Wechselgeld!“

Überrascht stopfe ich eine Münze in meine Hosentasche. Sie fühlt sich ungewohnt an. Bestimmt ist es ein Jeton für Einkaufswagen oder Falschgeld.

„Endlich! Du hast das Glück beim Schopfe gepackt! Dein Schicksal hast du eingesackt. Es beginnt sich schon zu entfalten!“ Er dreht sich um und ist weg.

 

Zuhause nervt es mich, zehn Franken verschenkt zu haben. Bis vom Sozialamt neues Geld kommt, dauert es noch über eine Woche. Frustriert fahre ich meinen Laptop hoch und surfe in einem Gay Portal. Natürlich werde ich mich niemals auf ein Blinde Date einlassen! Vor zwei Monaten war ich mit Attila in einer Gay Sauna. Kaum drinnen fand er jemand anders, der ihm für die nächsten zwanzig Minuten interessanter erschien als sein bester Freund. In mein Badetuch gewickelt, hing ich an der Bar ab. Irgendwann verrutschte es und glitt zu Boden. War ich zuvor ein unsichtbarer Nerd mit komischen Haaren, umschwärmten mich danach sofort die Männer. Jeder starrte mich an. Ich floh Hals über Kopf.

Frustriert ziehe ich mich aus und betrachte mein Spiegelbild. Meine Haare stehen mir wie die vertrockneten Zweige eines Weihnachtsbaums vom Kopf ab. Wann immer ich als Kleinkind über meine Haare klagte, flüsterte mir meine Mutter ins Ohr, dass mein Urgroßvater in mir weiterleben würde. Das tröstet mich kein bisschen. Wer will schon von einem alten Mann aus Afrika besessen sein?

Ich bin knapp einsachtzig groß. Bis auf meine Haare und das andere bin ich totaler Durchschnitt. Meine Hühnerbrust passt zum schlaksigen Rest. Mein Arsch ist ganz in Ordnung. Als mein Pimmel sich erwachend aufstellt, ziehe ich mich rasch wieder an.

Eine Message ist für mich angekommen: Ficken jetzt? und Hast du Schwanzbilder? Ich finde weder einen Profiltext noch Fotos vom Sender. Ist er ein verklemmter Hetero, der Angst hat, ich würde ihn sofort denunzieren oder der Presse Bescheid geben? Er könnte auch ein potthässlicher Knacker sein, der so senil ist, dass er keinen ganzen Satz mehr formulieren kann. Während ich mir einen Kaffee mache, wirble ich plötzlich herum. Natürlich steht niemand hinter mir.

Draußen scheint die Sonne, wie im Oktober. Nachbars Rosen blühen noch immer. Die Straße runter hat jemand die dörren Zweige eines Haselnussstrauches mit Lichterketten umwickelt. Abermals glaube ich, jemand beobachtet mich....