Insel hinter dem Regenbogen

Insel hinter dem Regenbogen

von: Emilie Richards

MIRA Taschenbuch, 2011

ISBN: 9783862780488 , 656 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 6,99 EUR

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Insel hinter dem Regenbogen


 

2. KAPITEL


Zum Frühstück aß Rishi am liebsten Cornflakes. Die Marke war ihm egal. Meist nahm Janya im Laden die Sorte, die gerade im Angebot war. Ihr Ehemann mochte Cornflakes, die möglichst süß und leicht wie eine Wolke waren. Dann tränkte er sie mit viel Milch, bis alles zu einer dickflüssigen Masse wurde. Doch vielleicht war das – wie so vieles andere – ihre Schuld. Vielleicht würde Rishi ein nahrhafteres Frühstück zu sich nehmen, wenn sie sich die Mühe machen würde, einige der Speisen zuzubereiten, die schon ihre Mutter morgens serviert hatte.

Janya träumte von den Morgen, als sie noch ein Kind gewesen war. Dampfende, mit masala gewürzte Milch und poha, ein Gericht aus geschlagenem Reis, serviert mit Kokosnussraspeln. Sie sehnte sich nach idli, den leckeren Reisküchlein, die man in sambar, eine feurige Soße, tauchte. Und sie wünschte sich die würzigen Omelettes ihres Kochs, zu denen eine Auswahl von Broten gereicht wurde, die entweder gegrillt oder gebacken waren. Manchmal stellte sie sich vor, morgens eine Platte mit verschiedenen Obstsorten zu genießen. Mangos und Papayas, Granatäpfel und besonders chikku mit dem süßen Fruchtfleisch, das nach Karamell schmeckte. Leider hatte sie diese Früchte in Florida noch nie gesehen.

Doch Rishi war solche Speisen nicht gewohnt, also vermisste er sie auch nicht. Die Tante in Massachusetts, bei der er aufgewachsen war, hatte solche Köstlichkeiten für ihre eigene Familie nur selten zubereitet – und noch seltener für Rishi. Rishi war der verwaiste Neffe ihres Ehemannes gewesen, und seine Tante war verpflichtet gewesen, ihm ein Heim zu bieten. Doch sie war nicht verpflichtet gewesen, ihn zu lieben wie ihre eigenen Söhne.

Jetzt war Janya für Rishi verantwortlich, und auch sie musste ihm ein Heim bieten. Aber sie musste ihn nicht lieben, wie sie den Mann geliebt hatte, den sie einst verloren hatte. Janya erfüllte lediglich das, was laut ihres Ehevertrages absolut notwendig war. Sie teilte die Wohnung mit Rishi, hielt sie sauber und sorgte für warme Mahlzeiten. Sie teilte sogar das Bett mit Rishi, doch sie konnte ihr Herz nicht mit ihm teilen. Und sie konnte auch sein Herz nicht annehmen, obwohl sie wusste, dass er sich das wünschte.

An diesem Morgen war Rishi früh zur Arbeit gegangen, ohne sich die Zeit zu nehmen, seine Cornflakes zu essen oder sich eine Tasse Kaffee zu kochen. Als sie von ihrem frühmorgendlichen Spaziergang in das ruhige kleine Haus zurückkehrte, das ein wenig nach Weihrauch und verrottendem Holz roch, war er bereits aufgestanden und weggefahren. Erleichtert, dass sie keine nichtssagende Konversation betreiben musste, duschte sie. Dann zog sie sich einen gemütlichen salwar kamiz an, eine bestickte lange Baumwollbluse mit einer Hose, die an den Knöcheln eng geschnitten war. Und bevor sie es sich noch einmal anders überlegte, warf sie einen Blick auf den Busfahrplan, schloss dann die Tür ab und ging die Straße entlang, die die Halbinsel teilte, auf der ihre Häuser standen.

Janya war froh, dass sie an keinem der Nachbarhäuser vorbeigehen musste, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass einer ihrer Nachbarn sie auf einen Plausch anhielt – bis auf Mr. Krause vielleicht. Der Weg zur Bushaltestelle war lang und anstrengend, und wenn sie später nach Hause kommen würde, würde die Sonne jeden Schritt zu einer Qual machen. Wenigstens stand die Bank an der Haltestelle im Schatten unter einem großen Banyanbaum.

Sie wartete allein und beobachtete die Autos, die mit offenem Verdeck und aufgedrehten Radios vorbeisausten. Nur wenige Menschen nutzten in Palmetto Grove den Bus, und deshalb fuhr er auch nur selten. Die Leute hingen nicht halb aus den offenen Türen oder bedrängten und schubsten ihre Mitfahrer wie zu Hause in Indien. Janya bekam immer einen Sitzplatz. Nie lehnte sich jemand an sie, und auch Kleinkinder zupften nicht an ihren Kleidern herum.

Wenn der Bus sie schon nicht an ihre Heimat erinnerte, so tat es der Banyanbaum. Der Banyanbaum war Indiens Nationalbaum, und das Wort stammte aus der Sprache Gujarati. Sie erinnerte sich noch gut an einen vedischen Text, den sie in der Schule gelernt hatte, auch wenn sie ihn inzwischen nicht mehr in Sanskrit wiedergeben konnte.

An der Wurzel wie Brahma, in der Mitte wie Vishnu und oben wie Shiva geformt, grüßen wir dich, König aller Bäume.

Im Juni gab es einen Tag, an dem die Frauen fasten, zum Banyanbaum beten und ihn bitten konnten, bei jeder Wiedergeburt denselben Ehemann geschenkt zu bekommen. Bis zum Juni war es nicht mehr lange hin. Doch das war ein Ritual, an dem Janya sicherlich nicht teilnehmen würde. Weder jetzt noch in Zukunft.

Der Banyanbaum war vor fast einem Jahrhundert vom Erfinder Thomas Edison nach Florida gebracht worden. Das hatte Rishi Janya erst gestern erzählt. Sie hatten einen Ausflug nach Fort Myers gemacht, der Janya ihre neue Heimat näherbringen sollte. Ihr Ehemann liebte solch sonderbare Details, liebte Fakten und Informationen, die er einteilen und in seinem Hirn, das wie ein Computer arbeitete, abspeichern konnte. Seine Begeisterung für diese Nichtigkeiten bereitete ihr Kopfschmerzen.

Sie ermahnte sich, nicht über Rishi oder ihre Ehe nachzudenken. Diese kurzen Momente der Freiheit waren selten genug, und sie wollte sie genießen. Sie wollte zumindest so tun, als wäre sie wie alle anderen und so gut wie glücklich mit ihrem Schicksal.

Der Bus kam pünktlich, und wie immer erschien es ihr beinahe wie ein Wunder. Schnell kletterte sie in den Bus, in der Angst, dass er wegfahren könnte, während sie noch verdutzt den Kopf schüttelte.

Es war eine kurze Fahrt. Palmetto Grove war eine friedliche, ruhige Stadt, klein, mit sehr viel Smaragdgrün und einigen für die Karibik typischen bunten Farbklecksen. Die Autofahrer benutzten nur selten die Hupe, und die Fußgänger waren sicher, wenn sie die Straßen überquerten. In dem kleinen Stadtzentrum, das nur einige Blocks vom Golf entfernt war, befanden sich Läden, Videotheken, Restaurants mit hübschen Sonnenterrassen und Geschäfte mit Eisenwaren, Autoteilen oder Hochzeitstorten. Die Bürgersteige glitzerten im Sonnenlicht. Frauen aller Altersstufen, mit kurzen Hosen oder Sommerkleidern, spazierten Arm in Arm mit braun gebrannten Männern mit Sonnenbrillen durch die Stadt.

In die Stadt zu fahren weckte in Janya jedes Mal ein solches Heimweh, dass sie es kaum aushalten konnte. Nicht weil Palmetto Grove wie Mulund ausgesehen hätte, der kleine Vorort von Mumbai, in dem sie aufgewachsen war. Sondern weil es hier eben nicht so aussah. Hier war alles so leicht, so vernünftig, so höflich, so ganz anders. Sie hatte Indien nie verlassen wollen. Anders als viele Angehörige der Oberschicht, die ihre Zukunft an anderen Orten dieser Welt gesehen hatten, hatte sie ihre immer dort gesehen, wo sie geboren worden war. Jetzt fragte sie sich, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren würde.

In der vergangenen Nacht hatte sie, um ihr Heimweh zu lindern, eine Liste mit Dingen gemacht, die sie erledigen wollte, wenn sie aus dem Bus stieg. Zuerst wollte sie ihre Adressdaten der kleinen Bücherei in der Innenstadt geben, damit sie sich Bücher ausleihen konnte. Dann wollte sie den kleinen Spezialitätenhändler aufsuchen, in dessen Laden unterschiedliche Linsen, Gewürze, Hummus und frisches Pitabrot für die Zugezogenen aus dem Nahen Osten, Jerk-Gewürz für die Jamaikaner und Bananenchips und tropische Säfte für die Kubaner angeboten wurden. Und schließlich wollte sie sich das Freizeitzentrum anschauen.

Als Teil seiner Aktion, sie glücklich zu machen, hatte Rishi ihr von dem Zentrum erzählt. Es gäbe dort Kurse, hatte er gesagt, und für jeden, der in Palmetto Grove lebe, wäre etwas dabei. Die Kursgebühren seien gering, und sie hätte die Möglichkeit, andere junge Frauen zu treffen, junge Frauen, die auch viel Zeit und wenig Geld hätten. Er hatte darauf bestanden, dass es gut sei, das Haus zu verlassen und die Amerikaner besser kennenzulernen. Eines Tages wäre sie selbst eine von ihnen.

Das war etwas, auf das sie sich nicht unbedingt freute. In Janyas Augen wirkten alle Amerikaner einsam. So viel Platz um sie herum. So wenig Familie. Alte Menschen wie Herbert Krause und Alice Brooks lebten allein und mussten sich ohne Hilfe um ihre Angelegenheiten kümmern. Wo waren denn ihre Kinder, ihre Enkel, die Nichten und Neffen, die sie versorgten?

Natürlich gab es Fälle, in denen die Familie schlimmer war, als niemanden zu haben. Sie wusste das.

Eine Stunde später war Janya im Besitz eines Büchereiausweises und hatte zwei Bücher ausgeliehen. Außerdem hatte sie rote und gelbe Linsen gekauft, Asant, Bockshornkleesamen und sechs Dosen mit kubanischem Fruchtnektar. Nachdem sie überlegt hatte, ob es nicht an der Zeit war, nach Hause zu fahren, machte sie sich auf den Weg zum Freizeitzentrum, ihrem letzten Stopp an diesem Morgen.

Das Henrietta-Claiborne-Freizeitzentrum war ein Geschenk an die Stadt Palmetto Grove gewesen. Die exzentrische Erbin eines Fleischerei-Imperiums, deren Auto vor vier Jahren kurz vor der Stadt den Geist aufgegeben hatte, war die edle Spenderin gewesen. Sie war allein und inkognito auf einer Reise kreuz und quer durch den Staat gewesen – von ihrem Anwesen in Palm Beach zu dem Gegenstück in Newport, Rhode Island. Also hatte sie in einem örtlichen Café gesessen und darauf gewartet, dass jemand nach Tampa fuhr, um ein Ersatzteil für ihren Jaguar zu besorgen – so inkognito war sie nun auch wieder nicht gewesen. Und währenddessen hatte Henrietta eine Unterhaltung darüber mitbekommen, wie dringend die Stadt ein Freizeitzentrum brauchte, damit die...